Inhalt
Gracia ist doch noch ein Kind!
Annerose braucht jetzt viel Trost
Sternchen sehnt sich nach Papi
Wenn man Jörg Markmann kennenlernte, hätte man ihn für jünger gehalten, als er in Wirklichkeit war. Der Elfjährige haßte es geradezu, wenn man erstaunte Augen machte, nachdem man erfuhr, daß er schon elf und nicht etwa erst acht Jahre alt war. Dabei konnte man keineswegs behaupten, daß Jörg mädchenhaft wirkte – beileibe nicht. Er war nur eben ein bißchen kleiner und schmaler als die anderen. Daß er noch wuchs und bestimmt noch ordentlich zulegen würde, bis er erwachsen war, konnte ihn nicht über seinen heimlichen Kummer hinwegtrösten.
Wenn er seinen Vater betrachtete, kam er sich noch winziger vor. Achim Markmann war äußerlich das, was man sich unter einem »richtigen« Mann vorstellte – groß, beinahe vierschrötig, mit unheimlicher Kraft, die man ihm schon anmerkte, wenn man ihm nur die Hand gab. Seine Stimme war tief und veränderte sich, wenn er ärgerlich oder gar wütend wurde.
Alle seine Mitschüler in Ögela bewunderten Jörgs Vater. Hinzu kam, daß er auch noch einen außergewöhnlichen Beruf ausübte, der auf Kinder mit Phantasie auch noch ganz besonders wirkte. Achim Markmann war nämlich in der Strafanstalt des nahen Städtchens Celle Gefängnisaufseher!
Jörg fand es manchmal gar nicht spaßig, wenn er auf den Beruf seines Vaters angesprochen wurde. Er konnte die Auskünfte, die die anderen von ihm erwarteten, gar nicht geben, weil sein Vater daheim eben nur Vater war und kaum über seine Arbeit sprach. Mit einem Wort gesagt, er war ein ganz normaler Vater, und Jörg wünschte ihn sich gar nicht anders. Er wünschte sich einfach nur, einmal so groß und stark wie er zu sein, das war alles.
Jörg Markmann war kein Streber, aber er war ein guter Schüler, der wunderbar mitkam und seinen Kameraden dann und wann auch helfen und erklären konnte, was sie nicht verstanden hatten. Alles in allem – er war ein Kind, das seinen Eltern kaum Sorgen bereitete.
Und gerade das sollte mit einem Schlag anders werden.
Achim Markmann war heute pünktlich heimgekommen, ganz so, wie er es Jörg versprochen hatte. Sie wollten endlich den neuen Hasenstall bauen, denn einer der Nachbarn hatte Jörg einen Stallhasen versprochen, den er sich abholen wollte, sobald der Stall fertig war.
Daß Jörg seinem Vater dabei helfen wollte, war ebenso klar.
Achim Markmann saß noch in der hübschen Wohnküche und trank seinen Kaffee, während Jörg schon hinab in den Keller ging, wo Achim sich einen geräumigen Hobbyraum eingerichtet hatte. Jörg hatte seinem Vater schon viel abgeschaut und wußte genau mit den einzelnen Werkzeugen umzugehen. Nur die elektrische Kreissäge, die hatte er bisher noch nicht allein benutzt.
Und gerade das hatte er sich für heute vorgenommen. Er wollte beweisen, daß er so etwas Einfaches wie einen Hasenstall auch allein fertig bekommen konnte.
Als der Junge den Motor einschaltete, hob Achim Markmann droben in der Küche den Kopf und sagte hastig:
»Und dabei habe ich ihm doch verboten, allein mit der Kreissäge herumzuhantieren. Das ist viel zu gefährlich. Na, warte, ich werde wohl mal ein paar ernsthafte Worte mit dir reden müssen, Bürschchen!«
Damit erhob er sich, nickte seiner Frau Thea noch einmal zu und machte sich auf den Weg in den Keller, aus dem immer noch das Geräusch der elektrischen Kreissäge zu hören war.
Als Achim Markmann den Hobbyraum betrat, sah er Jörg erst gar nicht. Also schaltete er erst einmal die Kreissäge ab und fragte ungeduldig:
»Wo bist du? Brauchst dich gar nicht erst zu verstecken. Dein Donnerwetter kriegst du so oder so. Also? Wo steckst du?«
»Vati«, kam da die schwache Stimme Jörgs, und Achim sah ihn auf dem Boden sitzen. »Ich glaube, ich habe etwas falsch gemacht. Auf einmal ist es passiert. Ich weiß auch nicht, wieso.«
Achim Markmann sah mit einem Blick, was geschehen war. Zuerst, für Sekundenbruchteile nur, hatte er das Gefühl, jemand reiße ihm bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust. Aber dann hatte er sich auch sofort wieder unter Kontrolle.
»Jörg, mein Bengelchen!« keuchte er und riß das Kind an sich, drückte den kleinen Körper fest an sich und rannte die Treppe empor, während er brüllte, so daß man es noch mehrere Häuser weiter hören konnte:
»Thea! Den Verbandskasten! Und ruf sofort den Notwagen an. Jörg hat sich – er hat sich…« Seine Stimme brach, als er den Jungen auf den Küchenstuhl sinken ließ.
Die erschreckte Thea Markmann brachte den Erste-Hilfe-Kasten und fiel beinahe in Ohnmacht, als sie auf die linke Hand ihres Buben sah. Jörg hatte sich zwei Finger, den Zeige- und den Mittelfinger, abgeschnitten!
»Den Notarztwagen, Thea! Schnell!« stieß Achim Markmann hervor. Er sah nur aus den Augenwinkeln, daß eine der Nachbarinnen durch die Außentür der Küche hereinkam und blaß wurde, als sie erkannte, was los war. Beherzt drückte sie die kopflose, weinende Thea auf einen Stuhl und ging hinaus in die kleine Diele, wo das Telefon stand. Dann kehrte sie in die Küche zurück und sah noch, wie Achim seinem Jörg, der nun sonderbar apathisch wirkte, die Hand verband, die kaum blutete.
Da wandte sich die energische Frau um, ging an den Kühlschrank und nickte zufrieden, als sie die Flasche mit Korn dastehen sah. Es war ganz normal, daß man dann und wann einen Klaren trank, und der mußte natürlich eiskalt sein, sonst schmeckte er nicht.
Die Nachbarin, Maria Wichert, holte die Flasche heraus, suchte im Küchenschrank nach Gläsern und schenkte ein. Dann hielt sie Thea Markmann ein Glas hin.
»Hier«, sagte sie ruhig und gleichzeitig auch befehlend, »das ist jetzt wie Medizin.« Sie reichte auch Achim, der noch vor seinem Jungen kniete, ein Glas, das er mechanisch nahm und leertrank.
Maria Wichert fand, daß sie auch ruhig einen Schluck vertragen konnte, und versorgte sich selbst. Die Kornflasche verschwand wieder im Kühlschrank, denn Maria fand, es sei genug, wenn man einen Korn als Medizin trank. Mehr konnte da nur schaden. Dann sah sie auf Jörg und fühlte sich unsicher und unfrei. Es kam nicht oft vor, daß Maria Wichert keine Worte fand. Aber eben jetzt war es so. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte…
*
Dr. Hanna Martens strich sich das blonde Haar nach hinten und pustete die Wangen auf. Sie lachte, als sie sich Schwester Barbara zuwandte und aufatmend sagte:
»Das war wieder mal ein turbulenter Tag heute, was? Jetzt eine ordentliche Tasse Kaffee, und dann mache ich, daß ich in meine Wohnung komme. Ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr.«