Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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      „Was macht er – er – als Genetiker eigentlich genau?“, fragt Jon nun.

      Offenbar ist auch ihm unbehaglich, den Namen auszusprechen. Hannes.

      Das stimmt sie versöhnlich, obwohl sie wenig Bedürfnis hat, sein Berufsbild zu erklären –

      Jon lächelt: „Man kann ja schon so viel erkennen. Würdest du alles wissen wollen?“

      „Du meinst sicher“, sagt Salome, „die Frage, ob man Gene trägt wie… Brustkrebs beispielsweise oder Alzheimer…“

      „Naja, zum Beispiel…“

      Wie oft war es in den letzten Jahren genau darum gegangen, hier an diesem Tisch. Sobald einige Leute, nahe oder auch nicht so nahe, in dieser Küche Platz genommen hatten, war es immer nur eine Frage der Zeit gewesen, wann irgendjemand zwischen Suppe und Dessert seinen Blick auf Hannes gerichtet und nach den neuesten Erkenntnissen gefragt hatte.

      Und wie oft war die Tischgesellschaft einig in ihrer Gespaltenheit auseinandergegangen, manchmal sogar wütend, sodass Salome schon begonnen hatte, Ablenkungsstrategien zu entwickeln, jedes Mal munter neue Themen in die Runde geworfen hatte, von denen sie ähnliche Brisanz voraussetzte, aber mit weniger Erregungspotenzial. Ihr Erfolg allerdings war mäßig geblieben.

      Der Blick in die eigene genetische Struktur war so verlockend wie unheimlich und wurde immer wieder zwischen den Polen – „Also, ich möchte nicht wissen, ob ich Alzheimer bekomme“ und „Aber wenn man einer heilbaren Krankheit vorbeugen kann“ – verhandelt.

      Hannes war in der Regel wortkarg geblieben in diesen Diskussionen, Salome wusste, dass er jeglichen Anschein von Eigeninteresse vermeiden wollte.

       Offenbar konnte er vieles gut verbergen.

      „Noch ist das alles ja sehr teuer“, sagt Salome, „eher was für Betuchte“, und erwartet, dass Jon sie nach ihrer Genanalyse fragt.

      Aber er fragt nicht. Sie könnte ihm auch nichts sagen, weil es keine Analyse ihrer Gene gibt.

      „Ich nehme mir einfach das Recht auf Nicht-Wissen“, hatte sie Hannes entgegengelächelt, und er: „Verstehe ich!“, erwidert, „Verstehe!“, und dann hatten sie nicht mehr davon gesprochen.

      Salome steht auf, „entschuldige bitte“, und geht aus der Küche hinaus in den Flur, hinüber zum Bad. Im Spiegel sieht sie verschmierte Augenlider, sie wischt herum und zieht neue Linien.

      Beim Zurückgehen streift sie im Flur versehentlich den Kamelhaarmantel, sie biegt um die Ecke und da sitzt sie, die Mutter, ein aufrechtes, zierliches Kraftpaket, schwarze Augen und Haare, zurückgebunden zu einem beachtlichen Knoten, glänzender Goldschmuck an Ohren und Hals, eine orientalische Königin mit kleinen faltigen Händen und rotem Nagellack, um deren Gelenke bei jeder Bewegung Goldreifen aneinanderklirren, Hannes ihr gegenüber, dazwischen Bekannte aus einem früheren Leben, ein fortgeschrittener fröhlicher Abend, und Hannes hat rotgeäderte Augen, wird entgegen seiner sonstigen Zurückhaltung gesprächig, als jemand zu fragen beginnt, lässt sich zu den Vorzügen einer Genanalyse hinreißen – dass sie unter anderem aufzeige, welche Medikamente man vertrage, welche nicht, was bei bestimmten Operationen lebensentscheidend sein könnte – und dass man auch Erfreuliches erfahren könne.

      „Das wäre?“, Mutter fragt mit spitzen Lippen.

      „Na, zum Beispiel, sogenannte Langlebigkeitsgene…“

       Das war natürlich dumm von ihm.

       Ja, Ma.

       Langlebigkeitsgene, pah. Haben die etwa irgendeinem von uns in Dachau geholfen? In Ravensbrück? Mauthausen?

      Salome betritt die Küche, setzt sich, legt ihre Fingerspitzen an beide Schläfen.

      „Es ist spät,“ räuspert sich Jon, „ich werde mich mal auf den Weg machen“.

      „Wohin?“, fragt sie mit sinkenden Händen.

      Er nennt ihr ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs, sie kennt es nicht.

      Eine Woche nach dem Oktoberfest war es kein Problem gewesen ein Zimmer zu bekommen. Und in der Stille, die nun folgt, hören sie beide das Knurren, das direkt und unmissverständlich aus der Mitte seines Körpers kommt.

      *

      Nach Mitternacht fragt sie, ob er bleiben möchte.

      Sie sieht Jon dabei gelassen an, so, als sei sie geübt darin, einem Mann am ersten Tag des Kennenlernens diese Frage zu stellen.

      Er blickt ebenso zurück. Zwei Flaschen stehen zwischen ihnen am Tisch, Gläser, zwei Teller mit Pizzaresten.

      Jon senkt den Kopf, streicht mit einer flachen, kräftigen Hand über seinen Kopf, Nacken.

      Als er ihr zwei Stunden zuvor eingestand hungrig zu sein, berührte er sich ebenso. Einen Moment ertappte Salome sich bei der Frage, wie sich diese Haut, die Schädelknochen darunter anfühlen würden. Da kam sein Gesicht wieder zurück, verschmitzt.

      Noch was müsse er beichten.

      „Noch was?“

      Salome leerte ihr Glas in einem Zug.

      Mit Radikalen könne er. Er könne Wohnungen renovieren, am Auto herumbasteln, Räder reparieren, solche Sachen. Aber kochen könne er nur Würstchen. Und Tiefkühl-Pizza.

      Salome lachte laut auf.

      Eigenartig leicht fühlte sich alles an, wunderbar leicht und wohlig – Ach, herrlicher Wein! Danke, Pharmaindustrie mit deinen Serotonin-Wiederaufnahmehemmern und Tranquilizern! Danke, Therapeut auf Urlaub! Erhol dich von mir! Was für ein lange nicht mehr erlebter Zustand, sie erhaschte im Spiegel gegenüber der Küche ihr Gesicht mit den rosigen Wangen und blitzenden Augen – war das tatsächlich sie?

      Und dann stöberte sie im Kühlschrank und belegte einen Pizzateig mit Tomaten und Thunfisch und Käse, schob ihn in den vorgeheizten Ofen, und Jon versuchte, sich alles gut zu merken.

      „Ja“, sagt er nun.

      Salome bemüht sich, ihr Lächeln zurückzudrängen, steht etwas unsicher auf, „Hoppla!“, gummipuppenartig bewegt sie sich vorwärts und muss lachen darüber, sie knipst das Licht im Wohnzimmer an, holt schwankend Decke, Kissen und Bettwäsche.

      „Warte“, er hilft ihr, beide kichern, das Sofa rumpelt, quietscht in den Scharnieren, als es ausgezogen wird.

      Sie kichern noch mehr beim Bespannen der Liegefläche mit dem Laken, das störrisch von den Ecken wegspringt, „nanu“, prustet Salome, „wieso ist das auf einmal zu klein?“

      „Achlassmalgehtschon“, flachst Jon zurück, jetzt reißt das Laken fast, als er es langzieht, aber es ist für sie keine Frage, es ist „zu heiß gewaschen, gibt’s doch nicht“, sie knautscht es zusammen, marschiert ins Schlafzimmer, wühlt im Schrank herum, sie kann ihm doch nicht den Platz neben sich im ehemaligen Ehebett anbieten, ach, da, da findet sie noch ganz hinten ein Geeignetes, Größeres, ist erleichtert – und zu ihrem Entsetzen irgendwie auch wieder nicht.

      *

      Mitten in der Nacht erträgt sie die Schlaflosigkeit nicht mehr. Sie hüpft aus dem Bett, als wäre es morgens, tänzelt auf Zehenspitzen aus ihrem Zimmer über die Dielen, öffnet unhörbar die Wohnzimmertür, er schnarcht.

      Salome versteht sich selbst nicht, wird von etwas, das ihr den Verstand genommen hat, getrieben, lautlos bleibt sie vor der Bettkante stehen, verharrt Sekunden oder Minuten, setzt sich dann behutsam, schiebt sich so leicht wie möglich ins Bett, er schläft, tatsächlich, er schläft und schnarcht, sie beobachtet das scharfe Profil, den Arm, der aus dem T-Shirt ragt und locker seinen Kopf umrahmt, und sie sehnt diese vollkommene Entspannung herbei, die er verströmt, die Bewusstlosigkeit, von keinem Traum gestört, nichts vom Körper neben sich wissend, welcher am Rand der Bettfläche steif verharrt, um nicht an ihn zu stoßen.

      Salome versagt sich den Wunsch, ihn zu berühren,