Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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ist nach Berlin gezogen.

      „Zahlen, bitte.“

      Zu ihr.

      Do – reen.

      Jon legt Geld auf den Tisch. Fällt sie in Ohnmacht?

      Er stützt sie. Jetzt ist ihr Gesicht eindeutig zu rot, sie atmet schwer, wirkt wie unter Drogen.

      Die Leute am Nebentisch –

      Salome reißt sich los mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, eilt zur Tür, jemand kommt soeben herein, sie ist draußen.

      Nur weg hier, wegwegweg. Nach den ersten Schritten beschleunigt sie, fällt nicht um, kann sich aufrecht halten. Weiter, nicht stehen bleiben, gehen, laufen, wenn sie stehen bleibt, gibt es keine Garantie. Die Augustenstraße überqueren, die Abgasluft wegatmen, diese ganze verpestete Luft. Sie wird nicht versteinern, diesmal nicht. Nichts mehr bewegen können, eine Statue sein, festgeschraubt am Asphalt –

      Und dann die Blicke und Fragen, kann man Ihnen helfen, das inwendige Gebrüll NEINMIRISTNICHTZUHELFEN, nicht nach hinten sehen, bewegen, bewegen, solange es geht, auch wenn sie jetzt keucht, weiterweiterweiter –

      Plötzlich ist er neben ihr, muss schnell gelaufen sein.

      In der Hand den Mantel ihrer Mutter.

      Jons Atem ist normal, ein durchtrainierter Mensch, während sie alles Mögliche ausstößt, aus jeder Pore, Panik und Scham.

      *

      Später wird sie sich nur erinnern, wie er „Alles klar, ich bringe dich nach Hause“ sagte und den Arm hob, als er an der Kreuzung ein Taxi sah.

      Ihr beim Einsteigen half, sich nach hinten zu ihr setzte und zum Fahrer meinte, er solle losfahren, gleich wisse er die Adresse.

      „Nimrodstraße 3“, hüstelte Salome.

      Und wie sie es folgerichtig und grotesk zugleich fand, dass sie jener, zu dessen Frau ihr Mann gezogen war, nach Hause brachte.

      Dorthin, wo sie lächerlicherweise gedacht hatte, gemeinsam alt zu werden, in „heiterer Würde“, wie sie es immer bezeichnet hatten, sie und Hannes, der „Ihrige“, wie man in der Gegend sagen würde, aus der er kam.

      *

      „Wer…“, fragt Jon, als sie sich gegenübersitzen und die Tablette, die Salome geschluckt hat, wirkt, „…ist Herr Nimrod?“

      Sie lacht: „Ja, der Herr Nimrod. Erstes Sinnbild für Überheblichkeit. Laut Bibel. Gründer von Babylon und Ninive, Erbauer des Turms von Babel. Und angeblich der Mann von Semiramis.“

      „Oh“, sagt Jon, streicht sich über den Schädel und grinst, „ehrlich gestanden…“

      „Das ist die mit dem Weltwunder, den hängenden Gärten… und vermutlich hat sie ihn getötet.“

      Jon schmunzelt: „Interessante Straße…“

      Ja, denkt Salome. Das fand Hannes auch, als sie hierherzogen. Und dass einige Leute in der Stadtverwaltung offenbar über einen subtilen Humor verfügten, als sie eine Straße mit fünf Häusern, die etwa dreißig Meter lang und fünf Meter breit ist, nach jemandem benannten, der als „der Erste“ gilt, „der Macht gewann auf Erden“.

       Ein Jäger, Eroberer, Schätzchen, ein Tyrann.

      Sie sitzen am Küchentisch. Das Wohnzimmer mit seiner Sitzlandschaft war Salome beim Eintreten zu intim erschienen und die anderen Zimmer zu unaufgeräumt, sodass sie Jon sofort ins Unverfänglichste gelotst hatte.

      Er hatte sich kurz umgesehen, Röntgenblicke, als brauche er nur den Flur und einen Raum, um sich zu orientieren.

      „Darf ich…?“, fragt er nun und steht auf, sie deutet nach draußen.

       Geh endlich weg, Ma.

      Als er von der Toilette wiederkommt, schließt Salome soeben die Kühlschranktür, hat den Wein herausgenommen.

      Er betrachtet das Foto mit den beiden Jungs, „Unsere Neffen“, sagt Salome, „naja, Hannes’ Neffen zweiten Grades… wir haben…“, sie dreht sich um, „… ich habe sie… lange nicht mehr gesehen“, Jons Blick schweift über die Magnete, während sie mit dem Rücken zu ihm die Flasche bearbeitet. Nur das Quietschen des Korkens ist zu hören, denn es gibt nichts zu sagen angesichts dieser auf Bahnhöfen, Flughäfen, Kiosken, Flohmärkten weltweit gekauften buntschreienden Mitbringsel von vergangenen, sicher glücklichen Reisen.

      Plopp. Salome wendet sich um, mit Flasche und Korkenzieher in der Hand. Es war Hannes gewesen, der ihr die Nimrodstraße erklärt hatte.

       Nicht du, Ma.

      Es gab wenig, was er nicht wusste.

       Pah. Dir konnte er das Wasser nicht reichen.

       Hör auf, Ma.

      „Er will“, Salome holt tief Luft und nimmt zwei Gläser aus dem Schrank, „dass wir… wir die Wohnung verkaufen“.

      Sie schenkt ein, sieht ihren Gast nicht an, als sie ihm das Glas reicht.

      Sehr still ist die Küche, nichts rührt sich.

      „Sie… sie gehört uns beiden …“, fügt sie hinzu, „Prost“.

      „Salute“, Jon löst sich aus seiner Starre, hebt das Glas, betrachtet dessen lichtes Inneres.

      Dieses Problem hat er nicht, denkt Salome, schön für ihn.

      Sie deutet zum Tisch, Jon nickt, sie setzen sich.

      Ich habe es immer gewusst, immer. Unglück wird er dir bringen, Unglück.

      „Wirst du hoffentlich gut beraten?“ Nun sucht Jon ihren Blick.

      „Ja…“, sie zögert, „nun…“

      Weiß er das schon? Sie beißt sich auf die Lippen.

      Er sieht sie fragend an, und sie sagt, als wolle sie es so schnell wie möglich hinter sich bringen:

      „Hanneswillsichscheidenlassen.“

      Jon betrachtet sie regungslos.

      „Er sagte es nicht, aber… aber als ich ihn beim letzten Mal fragte …“

      Salome fixiert die Tischkante, streicht mit einer Handfläche darüber.

      „Was denn?“ Jon beugt sich vor, mit verschränkten Armen.

      „Okay. Als ich ihn fragte, ob das bedeute, dass er wieder heiraten wolle – und ich Idiotin war sicher, dass er Nein sagen würde – antwortete er nicht.“

      Sie fächelt sich Luft zu, gegen die plötzlich aufsteigende Hitze, die, sie weiß es, ihren Hals, ihre Wangen rötet.

      Jon wartet. Er ist es gewöhnt zu warten.

      Salome schließt die Augen, gibt sich einen Ruck, öffnet sie:

      „Hannes bekam nur einen glasigen Blick. Und als er erkannte, was das bei mir bewirkte, schüttelte er den Kopf, er sah weg, und ich… ach, es war so demütigend, ich verachtete ihn so, nie hätte ich gedacht, dass ich ihn so verachten könnte, ein schreckliches Gefühl, ich wollte dieses Gefühl in mir ersticken… es war alles so… so erbärmlich…“

      Sie ist nahe dran zu weinen, schluckt. Genug geweint, es ist genug.

      Nicht nur Jons Gesicht, sein gesamter Schädel: Versteinerung, Gipsabdruck, Totenmaske –

      „Tut mir leid“, flüstert Salome.

       Hab ich’s nicht gesagt, Schätzchen?

      Immer noch treten seine Kieferknochen scharf hervor. Aber nun kommt Bewegung in ihn, er setzt das Glas an den Mund, trinkt einen kleinen Schluck, stellt es am Tisch ab. Sagt sarkastisch:

      „Das Leben