Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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      Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte Salome in ihrer Küche gestanden, das Handy am Ohr.

      Mit einem Arm hatte sie sich am Holztisch abgestützt, mit der anderen Hand krampfhaft das Gerät gehalten, aus dem eine unbekannte Stimme gedrungen war.

      „Hallo, äh, sind Sie noch da?“

      Salome hatte sich gewundert, dass sie die Worte verstehen konnte. Marionettenhaft hatte es ihre Fingerkuppe geschafft, das Lautsprecherzeichen des wackelnden Displays zu treffen.

      „Ja.“

      Das Wackeln, das hatte sie gleichzeitig mit der Antwort bemerkt, verursachte ihre zitternde linke Hand, aber auch die rechte, in die sie das Gerät nun versuchsweise gelegt hatte, war nicht imstande gewesen, es ruhig zu halten. Schließlich war es ihr gelungen, dieses auf dem Küchentisch zu platzieren, neben der halbvollen himmelblauen Tasse.

      „Vielleicht hätten wir uns etwas zu sagen.“

      Aus der Tasse war ekelhafter kalter Kaffeegeruch hochgestiegen.

      Hannes, hatte Salome gedacht.

      Hannes und die Tasse und der Tag im Juli letzten Jahres.

      Sie hatte die Tasse mit einem Schlurfgeräusch über den Tisch geschoben, weit von sich.

      Der Tag des Anschlags.

      „Ich weiß nicht … also…“

      Bin so müde, gleich falle ich um –

      „Verstehe. Hm, also… Es ist so, dass ich in München zu tun habe, nächste Woche. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht kennenlernen.“

      Schlafen.

      „Ich werde… werde Sie… zurückrufen.“

      Das hatte sie mit äußerster Anstrengung hervorgepresst. War das so gemeint gewesen?

      Die Übelkeit hatte weiteres Nachsinnen verhindert, eine Übelkeit, die sich schwungvoll in ihrem ganzen Körper verteilt hatte, ein erstaunlich dynamischer Vorgang, der ihr mittlerweile schon vertraut war.

      „Es tut mir leid… ich wollte Sie nicht…“

      „Ist schon… also… ist schon in Ordnung.“

      „Auf Wiedersehen.“

      Die Verbindung war vom Anrufer beendet worden, was Salome aber nicht mehr bemerkt hatte.

      Denn was nun auf den Tisch gerutscht war, waren ihre ineinandergelegten Arme gewesen, ein stabiles Rechteck aus Muskeln und Knochen, auf das ihr Kopf sinken hatte können, der Kopf, der plötzlich mit Leere gefüllt gewesen war, einer gnädigen Leere, Nussschale, entkernt.

      *

      Kahl und grau wirkt der Englische Garten in diesen nassen Oktobertagen, passt, denkt Salome, passt hervorragend. Einige Hunde laufen umher, vermummte Menschen folgen ihnen, neonblinkende Turnschuhe an Joggern. Die Betriebsamkeit der Stadt bleibt an den Rändern des Parks zurück, ihr Brummen wird leiser mit jedem Schritt.

      Vor dem Kiosk steht ein Mann, der einen roten Schal und eine rote Mütze trägt. Im Näherkommen sieht Salome dicke blaue Jackentaschen, ausgebeult von seinen Fäusten. Sie sieht Jeansbeine, festes Schuhwerk, einen drahtigen, fremden Menschen, den sie gerne in seiner Fremde belassen hätte. Der ihr aber in den letzten Tagen zunehmend im Kopf herumgeschwirrt war und eine geradezu feurige Neugierde in ihr entfacht hatte, welche sie ziellos durch die Wohnung getrieben, schließlich schlaflos gemacht hatte, nahezu nahrungslos.

      Sie hatte diese Begegnung nicht mit dem Therapeuten vorbereiten können, sie wunderte sich über ihren Mut.

      Der Mann sieht ihr entgegen.

      War es das? Mut?

      Die rote Mütze und der Schal waren seine Idee gewesen.

      „Gut“, hatte sie am Telefon gesagt und dann in einem Spontanentschluss hinzugefügt: „Ocker. Bei mir wird es Ocker sein.“

      Plötzlich war ihr der schwarze Mantel samt Kapuze mit Kunstfell, den sie sonst immer trug, als ein zu grelles Statement erschienen. Nur nicht als Trauerklotz auftauchen.

       Haltung.

       Haltung, Schätzchen, ist nicht alles. Aber viel.

      Als sie den Kamelhaarmantel ihrer Mutter aus dem Schrank geholt hatte, war sie kurz unsicher geworden. Sie war vor den Spiegel getreten und hatte gesehen, wie die Farbe ihre Gesichtsblässe betonte. Ein bleiches Dreieck mit zwei Kastanien glühte ihr entgegen.

      Sie hatte den Mantel aufs Bett gelegt und im Badezimmer wild entschlossen die Schublade aufgerissen, in der sich die Schminksachen befanden. Sie hatte sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal Rouge und Wimperntusche aufgetragen hatte, wann ihr wichtig gewesen war, farblich passenden Schmuck in ihren Ohrlöchern zu befestigen.

      Sie hatte sich bei ihrer Verwandlung zugesehen, ihre Lippen zusammengepresst, geöffnet, gewischt, geklopft, geprüft.

      Sie war hübscher als sie gedacht hatte, hatte dies allerdings festgestellt wie eine Frau, welche soeben die Tür zu einem Waschraum aufdrückt, eine andere flüchtig im Spiegel sieht und erschrickt.

      Alles vorübergehend. Gar nicht schlimm.

      Nur ein bisschen – wie nannte der Therapeut ihre Zustände? –

      Ah, ja. „Depersonalisation.“

      *

      Er lässt die Hände in den Taschen, als sie in zwei Meter Entfernung vor ihm stehen bleibt und seinen Blick sucht. Seine Augen sind schmal, mattes Braun.

      „Tja“, sagt Salome mit ineinander verschränkten beigefarbenen Handschuhfingern, macht ihre Lippen zu einem dünnen Strich, hochgezwirbelt an den beiden Enden.

      Sie tritt von einem Stiefelbein aufs andere. Das Ocker in Variationen, das sie von oben bis unten trägt, wird nur unterbrochen von ihrem dunklen, unter der Mütze hervorspringendem Haargewirr.

      Jetzt erst schiebt er den Schal nach unten, ein weiches unrasiertes Kinn zeigend, schmale Lippen.

      Verlegen lächelt er, sieht kurz auf seine Schuhe und wieder hoch.

      „Wollen wir“, fragt sie, „ein bisschen gehen?“

      Die ersten Minuten schweigen sie.

      Kleine und größere Hunde in verschiedenen Farben und Formen kommen ihnen entgegen oder überholen sie, während sie nebeneinander kräftig ausschreiten, als hätten sie ein Ziel, das schnell erreicht werden muss. Salome marschiert mit erhobenem Kopf, ihre Handtasche fest im Griff.

      Er räuspert sich, lässt seine Blicke über die Bäume und Wiesen schweifen, über das verlebte Grün, das schmutzige Gelb.

      „Wollen wir uns“, fragt er, „duzen?“

      Er heißt Jon, das weiß sie vom letzten Telefonat.

      Sie bleiben stehen, sie nickt, beide lächeln verlegen, gehen nach kurzem Zögern weiter.

      „Wie“, fragt sie schließlich, „war die Reise?“, und sieht ihn von der Seite an.

      „Danke, gut“, antwortet Jon, sich erneut räuspernd.

      Er ist mit der Bahn gekommen. „Fliegen ist nicht mehr so…“, wie er am Telefon gesagt hatte.

      Sie verlangsamt ihren Schritt, weil ihr Herz hüpft, sie ist dieses Tempo nicht mehr gewöhnt. Er tut es ihr nach, sie halten schließlich unter einer Ulme, passt, denkt Salome, die Ulme passt auch, der Trauerbaum.

      Sie drehen sich zueinander.

      Jons Blick kommt aus Augen, die sie nun als bernsteinfarben bezeichnen würde.

      „Scheiße, was“, grinst er.

      Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Er ist Polizist, auch das hatte er ihr am Telefon erzählt. Das Sprechen mit ihm war leichter gewesen in dieser Distanz, eindeutig. Sie wird schon