Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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dunkle Gebäude, die Kindertagesstätte.

      Eine flüchtige Erinnerung steigt auf: Hannes’ Rücken am Fenster, sichtbar durch die halb angelehnte Tür, wenn vom Haus drüben Lachen, Weinen, Geschrei und Mahnworte oder Kurzbefehle herüberschwappten.

      „Ja“, murmelt Salome, „Überraschungen…“

      Einige Male hatte sie ihn auch nachts vor diesem Fenster gesehen, als alles still gewesen war und lichtlos, sie war dann ins Schlafzimmer zurückgeschlichen und irgendwann doch eingeschlafen.

      Ihr Blick kehrt zu Jon zurück, taucht in seinen, der sie mit einer merkwürdig kühlen Wachheit durchdringt. Als könnte er etwas sehen, was tief in ihr verborgen ist, er dreht den Kopf, sie starrt auf ihre Hände, verwirrt, ohne Atem.

      Wie ist das möglich! Sie fühlt sich aufgerissen, so, als habe sein bohrender Blick die Tür zu einem geheimen Raum aufgestoßen, der nur ihr und Hannes gehört, ein Raum, in dem eine Verkündigung hockt, eine Entscheidung, eine Übereinkunft. Etwas für immer.

       Ewig und immer… ha!

      „Ziemlich stickig hier, nicht wahr“, lächelt Salome, wartet keine Reaktion ab, sondern geht zum Fenster und kippt es.

      Doch die kühle Luft kann nicht verhindern, dass sie nun auch daran denken muss:

      An den Traum, den sie seit Jahren träumt.

      In dem es ein Kind gibt zwischen Hannes und ihr.

      Im Traum sieht sie weder das Kind noch ihn, aber sie weiß, dass sie zu dritt durch eine etwas neblige Landschaft gehen und fühlt, wie sich eine weiche kleine Hand in ihre schiebt. Und träumend weiß sie, dass Hannes auf der anderen Seite soeben dasselbe erlebt. Ein Dahingleiten in einer eigenen Zeitrechnung, ein schwereloses Existieren in einem Universum, das osmotisch mit der übrigen Welt verbunden ist, aber Regeln folgt, die nur sie kennen, Mutter, Vater, Kind.

      Im nächsten Moment Bodenlosigkeit, Fallen, panisches Umsichschlagen.

      Wenn Hannes da war, fand sie sich in seinen Armen, Stirn an Stirn, sie schwitzend, mit nassen Wangen, er „Istschongut, war nur der Traum, alles gut“ murmelnd.

      Salome setzt sich wieder.

      Jaulen und Fauchen sind von draußen zu hören.

      Hatte er nicht auch einmal gemurmelt, entnervt: „Was… wieder dein Traum? Lass mich schlafen …“, und sich umgedreht?

      „Die Nachbarskatzen“, sagt sie und hätte nichts dagegen, das Thema auf sie zu lenken, tierische Kampfstile zu besprechen.

      Jon aber nickt nur und streicht mit dem Zeigefinger am Glas, in dem noch ein Rest Weißwein schimmert, hinauf und hinunter.

      „Wie hast du den Anschlag erlebt?“

      Salome hört zu atmen auf.

      „Äh…“, sagt Jon, „… entschuldige“.

      Sie steht erneut auf, geht auf den knarzenden Dielen zum Kühlschrank.

      Weiß er denn nicht, dass er damit ins Zentrum trifft?

      Mit einem Ruck öffnet sie die Tür, ihr Gesicht leuchtet auf, sie nimmt eine Wasserflasche heraus.

      Dass seit jenem Anschlag, Amoklauf, Hassverbrechen –

      Natürlich weiß er es.

      Weiß von jenem Freitag, diesem warmen bewölkten Julifreitag im vorigen Jahr, an dem kein heiliger Abend stattfinden konnte, kein gemeinsames Kochen und Essen, kein Kerzenlicht, weil Hannes schon mittags nach Berlin zu einem seiner Humangenetik-Kongresse geflogen war und sie tagsüber Termine gehabt und dann in die Klinik gemusst hatte, zum Bereitschaftsdienst.

      Während sie sich schließlich für die Anästhesie entschieden hatte, war er mit seinen vielfältigen Interessen und nach längerem Hin und Her Genetiker geworden.

      Ein Präventivmediziner, der Genprofile erstellt. Der Menschen erläutert, welche Enzyme sich bei ihnen anoder abschalten, welche Medikamente für sie richtig oder falsch sind, welche Risikoallele sie tragen, – „die Leute rennen mir die Bude ein“, lachte Hannes manchmal abends beim Zubereiten des Essens, „Schlomo, du glaubst es nicht“.

      Schlomo.

      Nie wieder würde sie jemand Schlomo nennen.

      *

      Ein Zettel mit einem gemalten schwarzen Herz vor der himmelblauen Tasse hatte sie am Küchentisch erwartet, als sie im Morgengrauen damals von der Klinik nach Hause gekommen war. Sie hatte das Papier an sich gedrückt und die Tasse abgewaschen und Wasser aus ihr getrunken. Sie war so durstig gewesen, dass sie die Tasse mehrmals nachgefüllt hatte.

      Danach war sie ins Bett gefallen und sofort eingeschlafen.

      Die ganze Nacht davor hatte sie ruhig und seltsam gefasst verbracht, trotz des unaufhörlichen Sirenengeheuls und Hubschrauberlärms in der gesamten Stadt, der Bilder, Videos und Meldungen.

      Tote, Verletzte vor und in einem Einkaufszentrum, unweit der Klinik.

      Salome mochte es, dort einzukaufen. Sie kannte jeden Meter Asphalt zwischen dem Restaurant, wo die ersten, offenbar Jugendliche, erschossen worden waren, und den weiteren Gebäuden.

      „Was… dort? Dort gehst du hin? Ich weiß nicht… Mir gefällt der Publikumsverkehr da nicht.“

      Salome hatte die Stimme einer ihrer Kolleginnen im Ohr, einer Oberärztin.

      Was meinte die? Bei den nächsten Einkäufen hatte sie begonnen, die Leute zu beobachten. Ja, es gab offensichtlich viele, deren Eltern oder Großeltern aus anderen Ländern gekommen waren.

      Salome hatte sich darüber nie Gedanken gemacht. Das Herablassende der Kollegin aber war wie Gift in sie hineingeträufelt, hatte ihre Wahrnehmung verändert. Sie wünschte sich ihren früheren Blick zurück, der Menschen im Fokus gehabt hatte.

      Nichts als Menschen.

      Der Klinikchef hatte die Belegschaft zusammengerufen und die unübersichtliche Lage dargelegt. Man sei in ständigem Kontakt mit verantwortlichen Stellen. Oberste Maxime: Ruhe bewahren.

      Überall bleiche Gesichter, blinkende Displays in den Fluren und Schwesternzimmern, den Besprechungsräumen und der Cafeteria, die plötzlich zum Treffpunkt wurde, weil die beiden Angestellten wie alle anderen nicht nach Hause konnten.

      Als die Nachricht von mehreren flüchtigen Attentätern kam, wurden alle Eingänge der Klinik verriegelt.

      Blickte man aus den Fenstern des Krankenhauses, sah man leere Straßen. Kein öffentliches Verkehrsmittel war mehr in Betrieb. Keine Tram, kein Bus, und, so die Meldungen, auch keine S- und U-Bahn mehr.

      Kein Taxi durfte jemanden mitnehmen.

      Dann die nächste Nachricht: Schüsse an mehreren Stellen im Zentrum der Stadt. Weit weg vom ersten Ort des Verbrechens.

      Salome hatte den Mundschutz hinter den Ohren befestigt und den Raum betreten, in dem sich ein alter Mann soeben in der Aufwachphase befand. Ein Routine-Notfall, Herzinfarkt. Das OP-Team war auseinandergegangen, Salome und Slava, die Anästhesieschwester, waren für die Nachsorge zuständig. Das Monitoring hatte keine Auffälligkeiten ergeben, die Schutzreflexe des Patienten würden wohl zufriedenstellend ausfallen.

      Am Rande hatte sie mitbekommen, wie die Schwestern und Pfleger die Leute in den Betten zu beruhigen versuchten.

      „Hier sind Sie sicher.“

      Die eilig vorbereiteten OP-Säle und zusätzlichen Krankenzimmer aber waren leer geblieben. Nur eine Frau, in der allgemeinen Panik aus dem Fenster eines Lokals im Zentrum der Stadt gesprungen, wurde am späteren Abend mit einem Armbruch eingeliefert.

      „Nun also auch wir.“

      Slava hatte dies ohne aufzusehen beim Präparieren des Katheters festgestellt, kurz bevor der nächste ungeplante Kaiserschnitt in den OP geschoben wurde.

      „Wo ist mein Mann?“,