Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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      Die dünne Nadel in die Lendenwirbelsäule der Frau zu stechen, um ihr Hirnwasser zu erreichen, war ein schwierigeres Unterfangen als sonst, der Rücken zuckte unaufhörlich vom Schluchzen der Frau. Erst als die Hebamme ihr versprach, den Mann ausfindig zu machen, ließ sie sich in die Seitenposition bringen und Salome konnte die Spinalanästhesie durchführen.

      Das Baby kam ohne den Vater zur Welt. Die Mutter sah das Kind mit aufgerissenen Augen an, als man es ihr zeigte, und Salome gab ihr schließlich ein mildes Beruhigungsmittel.

      Sie konnte sich später nicht mehr erinnern, ob sie Slava richtig verstanden und diese nicht gesagt hatte:

      „Nun also auch hier.“

      Es war die Nacht der knappen Sätze gewesen, der mechanischen Bewegungsabläufe, des Schlafwandelns in einer Hyperrealität.

      Und bei jedem Handgriff, den sie ausgeführt hatte, bei jeder neuen Information, die zu ihr und den anderen gedrungen war, hatte sie die Gewissheit gestärkt:

      Hannes ist sicher.

      Er war in Berlin, er würde nach dem Kongress zurückkehren, sie würde ihn vom Flughafen abholen und später in seinen Armen aufwachen und die Szenen mit ihm durchgehen, in denen sie Menschen aus Fenstern fallen oder Straßen entlangrennen gesehen hatte, und die Berichte mit ihm gemeinsam verfolgen von geisterhaft leeren Bahnstationen, Straßen und Plätzen, Schilderungen von fliegenden Stühlen in Lokalen und Brauhäusern, von zerbrochenen Tellern und Gläsern und Leuten, die über Weichteile, die stöhnten, getrampelt waren, irgendeinem Ausgang zu.

      Er wäre wieder bei ihr, überarbeitet und unendlich froh.

      Sie würden hören, dass der jugendliche Attentäter sich seine Opfer gezielt ausgesucht hatte. Vorwiegend junge Menschen, die nichtdeutsch aussahen.

      Die aussahen wie er.

      Hannes würde den Kopf schütteln und hervorstoßen:

      „Was für ein Wahn. Was für ein abartiger Wahn. Es gibt keine Rassen. Das sind Konstrukte! Das muss endlich in die Schulen! Es gibt genetisch keine Rassen!“

      Sie würden sich umarmen, fest. Und Salome würde ihm von einem Augenzeugenbericht erzählen, der sich nicht mehr löschen ließ in ihrem Gehirn, in leisen, stockenden Worten, die wirkten, als wäre sie dabei gewesen in diesen Minuten, in denen ein sterbender Junge am Gehweg vor dem Einkaufszentrum liegt und ein Mann, der in der Panik, im Schreien rundherum zu ihm kriecht, über den Asphalt, im Schutz der Hecken – und ganz nah, Aug in Aug, fragt der Junge den Unbekannten: „Warum? Warum muss ich sterben?“, und der Mann flüstert mit all der Liebe, die er zur Verfügung hat:

      „Dubistnichtallein. Ichbinbeidir. Dubistnichtallein…“

      *

      „Ich gehe manchmal dorthin“, sagt Salome, „und stelle mich in das Denkmal. Kennst du es?“

      „Nein.“

      „Ein Gingkobaum wird von einer Art offenem Ring umschlossen. Im Inneren des Ringes sind die Porträts der… der… Getöteten angebracht. Schwarz-Weiß-Bilder. In einer milchigen Auflösung.“

      Sie stockt.

      „Wären es normal scharfe Bilder, könnte man meinen, sie lebten noch. Aber so… das Milchige, Graue zeigt das Unwiederbringliche… den unumstößlichen Verlust…“

      Salome wendet sich ab.

      Jon starrt auf sein Glas.

      Draußen ist plötzlich wüstes Kreischen und Fauchen zu hören, Kampfgetümmel.

      „Jetzt reicht’s aber“, Salome steht auf und schließt das Fenster.

      „Du magst das Wort Opfer nicht, richtig?“, sagt er in ihren Rücken hinein.

      „Richtig.“

      Sie dreht sich um und kommt zurück zum Tisch, setzt sich, schlägt die ockerfarbenen Hosenbeine übereinander.

      „Und“, fragt sie ein klein wenig angriffslustig, „wie hast du diese Nacht erlebt?“

      Jon holt tief Luft.

      Doreen hatte ihn noch angerufen nachmittags, sie müsse abends zu diesem Kongress, sie habe eigentlich keine Lust, könne man nichts machen, gehöre zum Job, mach dir ’nen schönen Abend, man sieht sich.

      Er sah sie dann etliche Tage nicht, was nicht ungewöhnlich war, sie telefonierten und sprachen über den Anschlag und wie schrecklich –, kurze nichtssagende Nachrichten mit vielen Bildchen dazu folgten, bin müde, du verstehst schon.

      Er musste beruflich weg für eine Woche, und als er wiederkam und endlich ihre Stimme hörte, sagte sie, sie brauche eine Auszeit.

      „Ehrlicher“, sagt Salome kühl, „als er war sie in jedem Fall“.

      In jener Nacht, in der sie ihn in Sicherheit in einem Berliner Hotel geglaubt hatte, war Hannes schon bei ihr, Doreen, in ihrer Wohnung gewesen. Er habe sein Handy nicht gefunden, als er schlafen gegangen sei, hatte er Salome tags darauf angelogen.

      Ihre Versuche damals, ihn von der Klinik aus zu erreichen, waren erfolglos geblieben, sie hatte mehrmals MachdirkeineSorgen esgehtmirgut getippt und eine Sonne geschickt. Natürlich schlief er, hatte sie sich gesagt, möglich, dass die Handys alle ausgeschaltet gewesen waren abends, beim Kongress, Empfang, wasauchimmer, dass niemand von den Vorgängen im Süden des Landes informiert worden war, aber eigentlich, und das war ein Unruheherd in einem entfernten Winkel ihres Denkens gewesen, konnte das nicht sein, es war doch auf allen Kanälen, der Ausnahmezustand einer Millionenstadt, in der Menschen Unbekannten, die panisch umherirrten, egal ob Einheimischen oder Leuten aus anderen Ländern, ihre Haustüren öffneten, Kommt rein, schnell, hier seid ihr sicher, alles verriegelten, während viele auf den Bahnhöfen außerhalb der Stadt festsaßen, andere stundenlang in Garagen hockten, Büros, Supermärkten, in Kühlhäusern, Kellern, sich zusammenkauerten in den Geschäftspassagen in der Innenstadt. Hannes war zurückgekommen am nächsten Tag, sie hatte sofort seinen rotbraunen Schopf zwischen den Leuten, die durch die Sperre am Flughafen gingen, erkannt, seinen besorgten, flattrigen Blick, war in seine Arme gestürzt, „Naaa“, hatte er, an sie gedrückt, gesagt und sich geräuspert.

      Und wie sie es sich gewünscht, wie sie es erwartet hatte, war er mit ihr die Ereignisse durchgegangen, hatte alles mit ihr angesehen, diskutiert, aufgearbeitet, sie getröstet und bekocht. Sie hatten Freunde und Freundinnen eingeladen in den Wochen danach, zum Essen und Trinken und Reden über jene Nacht, sie waren beschäftigt gewesen, viel Arbeit und Aufregung, „gut“, hatte er auf ihre Frage nach dem Kongress in Berlin gemeint, „das Übliche, du weißt ja“.

      Und dann waren noch einige Anekdoten hinzugekommen von Leuten, die Salome auch kannte und mochte oder weniger mochte und von Erkenntnissen, die Neues versprachen, wie immer.

      „Nichts“, sagt Salome bitter, „nichts war ihm anzumerken…“

      „Ja, das ist bei vielen Tätern… äh…“, Jon verstummt.

      Sie lehnt sich zurück, verknotet unterm Tisch ihre Finger, lächelt dünn.

      Was soll das hier? Sinnlos und vergeblich. Alles sinnlos und vergeblich.

      Was will sie von diesem Fremden? Wie kann sie sich nur so hinreißen lassen und so vieles offenbaren?

      Es war falsch, mit ihm hierher, nach Hause, zu kommen. Falsch, auch wenn die Pharmaindustrie ihr wieder einmal ermöglicht, es auszuhalten, dass jemand keine Ahnung hat, was sie fühlt.

       So war’s immer, Schätzchen.

       Jaja.

      Warum hatte sie nicht bemerkt, dass sie in einem Gespinst von Verrat lebte?

      Jon lächelt sie an, ein wenig unsicher, Salome presst die Lippen aufeinander, schluckt, will den Ekel nicht hochkommen lassen, dieses Gebräu – diese Selbstbeschädigung, Ohnmacht, sie will ihr altes Leben zurückhaben, verdammtnochmal, das Leben, in dem alles sicher schien im