Vom Lügen und vom Träumen. Birgit Müller-Wieland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Müller-Wieland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783701362837
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habe lange nichts bemerkt, erzählt Jon schließlich.

      Sie hatten ja auch getrennte Wohnungen in Berlin, er und, er zögert vorm ersten Aussprechen ihres Namens, Doreen.

      Salomes Schritt stockt.

      Sie atmet tief ein. Ein und aus.

      Auch Jon bleibt stehen, sieht sie an.

      Ein und aus.

      Wann wird es aufhören? Zumindest besser werden?

      Salome beißt sich auf die Lippen. „Doreen“ ist immer noch eine Nadel, die an ihrer Herzwand ritzt.

      Zwei Enten fliegen über beide hinweg.

      Immerhin, die Nadel ist ein Fortschritt. Die ersten Wochen war der Name ein Dolch, spitzes, zweimaliges Gehacke ins Fleisch: Do – reen.

      Als Hannes ihr den Namen in jener Nacht mitteilte, bekam sie einen Lachkrampf. Er saß ruhig vor ihr und sah zu, wie sie Tränen lachte, und als der hysterische Anfall vorbei war, sagte er, er hole nun seinen Koffer.

      Es gab keinen Eintrag im Internet von ihr, Doreen Irgendwer, Salome sah es Stunden später. Da hatte sie sich aus der ersten Erstarrung gelöst, konnte sich zumindest wieder bewegen. Sie bespuckte das Display. Klingelte Hannes’ besten Freund Hugo aus dem Schlaf und sagte nur:

      „Hast du es gewusst?“

      Die Art, wie Hugo „Was… was denn? Weißt du, wie spät es ist?“ krächzte und auf schlaftrunken machte, war ihr Antwort genug, sie legte auf.

      Also auch er.

      Alles war irreal. Auch er hatte sie hintergangen.

      Und wenn alles irreal war, dann konnte auch alles passieren.

      Zum Beispiel, dass Hannes zurückkehren würde, bald.

      Gab es diese D. überhaupt?

      Was nicht im Netz war: Gab es das überhaupt?

      Nicht einmal der Name, nicht einmal das.

      Ein Kind wackelt ihnen entgegen, ein Vater, Blick in seine Hand, mit der anderen schiebt er den Wagen vor sich her.

      „Hoppla“, sagt Jon und bückt sich, als das blauverpackte Kind, vermutlich also ein Junge, fast in ihn hineinläuft.

      „Oh“, sagt der Vater einige Meter weiter und lässt das Smartphone sinken.

      Wie hübsch die beiden Namen, denkt Salome, Jon und Doreen.

      Die Räder des Kinderwagens schmatzen auf dem feuchten Blätterboden, der Junge wird hochgehoben.

      Er habe nichts bemerkt von ihrem, Jon zögert und hat die Worte wiedergefunden, also ihrem – Abdriften. Er sieht mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, die Fäuste in der Jacke vergraben, als müsse er über das Wort „Abdriften“ nachdenken. Ob es diesen Vorgang richtig beschreibt, der ihm offenbar immer noch rätselhaft erscheint.

      Salome kann nichts anfangen mit diesem Wort. Sicher, im Nachhinein waren ihr Kleinigkeiten aufgefallen, Lieblosigkeiten sogar. Aber, meine Güte! Sie war realistisch genug, um zu wissen, dass sich eine Beziehung im Laufe der Zeit verändert. Wie sagten ihre Freundinnen?

      „Man wird härter miteinander.“

      „Ehrlicher“, meinte Salome bei diesen Gesprächen, es schien ihr das richtigere Wort zu sein. Ihr war ihre Ehe mit den Jahren immer inniger erschienen. Ehrlich und innig.

      „Deswegen“, sagt sie nun zu Jon, „hat es mich auch so kalt erwischt“.

      Und dann lacht sie bitter auf:

      „Polareiskalt.“

      Über ihnen schlagen Flügel, wieder zwei Enten.

      Jon haucht seinen Atem in die geröteten Hände.

      „Geknallt“, sagt er, „Doreen meinte, es habe…“, nun verzieht er seine Lippen zu einem Grinsen, hebt die Schultern und lässt sie fallen, „… einfach geknallt“.

      „Peng“, Salome schaut den Enten spöttisch hinterher, „peng“.

      *

      Nach der ersten Tasse Kaffee weiß sie, dass Jon Leiter einer Spezial-Abteilung ist. Seine Gruppe hat die Aufgabe, Salafisten für eine Kooperation mit der Polizei zu gewinnen.

      Die rote Mütze liegt auf dem Tisch, das Offenbaren seines kahlen Schädels und seines Berufes haben ihren Blick auf ihn verändert. Natürlich äußert er sich nicht näher zu seinen Tätigkeiten. Welchen Preis man für diese Art Zusammenarbeit zahlen muss, welche Gefahren damit verbunden sind. Das sind Fragen, die sie nicht zu stellen wagt.

      Er habe sich im letzten Jahr sehr in die Arbeit vergraben, sei auch viel im Ausland gewesen, lächelt Jon.

      Gesprächiger wird er, als Salome nach seinem Privatleben fragt.

      Acht Jahre zuvor habe er Doreen bei einem Jazz-Konzert kennengelernt.

      „Sie war in diesem Club und spielte Trompete. Nach dem Gig ging ich hinter die Bühne und fragte sie nach ihrer Nummer. Sie stellte mir ihre Musiker vor. Alles ihre Brüder“, er lachte auf, „und ich dachte, gut, dann wäre das mit der Familie schon mal geklärt“.

      Sie stammten aus der DDR, waren vor ’89 in den Westen gekommen, hatten Einiges durchgemacht. Im Brotberuf war sie Krankenschwester geworden, und in der Freizeit trat sie mit ihrer Brüderband auf. Freiheit sei für Doreen das Wichtigste. Er wäre gerne mit ihr zusammengezogen.

      „Tja“, sagt Jon und sieht zu den Propyläen hinüber, wo sich eine Touristen-Gruppe unter Schirmen aneinanderdrängt. Salome folgt seinem Blick.

      „Was ist?“, fragt Jon.

       Auch andere Mütter haben schöne Söhne.

      Salome fasst sich an die Stirn.

      Das Gesicht ihrer Mutter schaukelt auf sie zu. Vor ihrem Tod waren sie oft hier gewesen, im Museum, sie hatten danach Kuchen gegessen. Und das Thema Hannes vermieden.

       Kochen, das ja. Kochen kann er, Schätzchen.

      Wie konnte sie nur glauben, sie könnte an diesem Ort wie ein normaler Mensch umherspazieren, sich niederlassen, Kaffee trinken, einfach so?

      Salomes Herz schlägt schneller, sie weiß, wo das enden wird.

      Murmelt etwas, will aufstehen.

      Und sieht Hannes da draußen, umringt von Leuten, die ihm zuhören. Wie oft hatte sie ihn in den ersten Jahren begleitet, als er neben dem Medizinstudium Stadtführungen anbot.

       Jüdisches Leben in München, Räterepublik, Arcisstraße und Königsplatz – Von der Bücherverbrennung zur Musikhochschule, Grete Weil, Oskar Maria Graf…

      Jedes seiner Worte wurde verstanden, auch wenn man am Rand der Gruppe stand, selbst das Rumpeln des Verkehrs hatte sie abgefedert, seine gutturale Stimme, die alle mitnahm, in seinen Bann zog. Sie sieht den rötlichbraunen Haarschopf hüpfen, feinstachlig, ihre Handflächen brennen. Hannes’ gelassene Kompetenz, wenn er bei jeder noch so blöden Frage lächelte.

       Das war er! Das war er doch! Nicht dein Phantom, Ma.

      „Alles in Ordnung?“, fragt Jon.

       Und wer hat ihm all das nahegebracht? Der Heilige Geist? Oder wer?

      Salome sieht sich als Mädchen lesend in der elterlichen Wohnung und spürt die Verlegenheit, wenn Kinder sie besuchten und fragten, warum sie in einer Bibliothek wohne, sie sieht sich als Erwachsene Unmengen von Kisten auspacken, Kisten voller Bücher, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte, nachdem diese in eine kleine Wohnung gezogen war.

       Ach, Ma…

      Die Wände ringsherum kommen näher. Und von oben die Decke, das ist am schlimmsten. Salome schließt die Augen, was aber, sie weiß es, gar nichts helfen wird. Beim Versuch, sich endlich von diesem