Das Urteil von 1931 erfreute gewiss die politischen Freunde Eberts. Es war aber kein Damm, mit dem die Sturmflut der nationalistischen und nationalsozialistischen Propaganda hätte aufgefangen werden können. Diese Propaganda hatte sich seit langem der Gerichtsvorgänge und des Urteils von Magdeburg bemächtigt und daraus tödliche Waffen gegen die Weimarer Republik geschmiedet. Unermüdlich und unablässig wurde dem Staat, der nicht aus einer »revolutionären Bewegung« hervorgegangen sein wollte, die Schmach des Vaterlandsverrats vorgehalten.
Man kann dem Ebert-Prozess aber auch noch ein anderes entnehmen: Offenbar charakterisiert die Vergrößerung und Ausweitung der Wirkungen politischer Propaganda mit Hilfe öffentlicher Gerichtsverfahren ganz allgemein das Stadium der Politisierung gesellschaftlicher Konflikte und der Verschärfung politischer Kämpfe in einer Gesellschaft, die zur Massendemokratie wird. Wer ein solches Potential an sich zu reißen und auszunutzen weiß, kann, indem er die Ergebnisse der Justizprozeduren in einer geeigneten Situation gegen den politischen Gegner kehrt, seine Schlagkraft vervielfachen.
4. Erweiterung der Verbotssphäre im politischen Aktionsbereich
Waren die Fälle Caillaux und Ebert aus Ereignissen hervorgegangen, die in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichten, so wurzelten die schweizerischen und deutschen Fälle aus den fünfziger Jahren, über die nun berichtet werden soll, in der spezifischen Atmosphäre der Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs; sie illustrieren die für diese Periode typische Ausweitung der Staatsschutzgesetzgebung. Nicht notwendigerweise bestimmen indes die Vorschriften des Gesetzes das Vorgehen der Gerichte. Die hier wiedergegebenen Fälle wurden zu einer Zeit vors Gericht gebracht, für die einerseits die Angst vor der kommunistischen Offensive, anderseits die sorgenvolle Reaktion auf ältere und neuere Auswüchse der politischen Justiz im totalitären Herrschaftsbereich charakteristisch war. Da wurde energisch an den neueren gesetzlichen Regelungen festgehalten, die unter anderem eine Überwachung verdächtiger Auslandsbeziehungen der Staatsbürger erlauben, zugleich aber die Möglichkeit, politisch frei schwebenden oder peripheren Gegnern den politischen Aktionsraum zu sperren, mit einer gewissen Reserve behandelt oder nur mit Beklemmungen ausgenutzt. Nur mühsam ließen sich diese beiden Tendenzen im Gleichgewicht halten.
a) Freiheit der Forschung stößt auf Schranken
Die Stellung eines kleinen Staates in einer Welt von Riesen und weitgespannten übernationalen politischen Bewegungen ist im günstigsten Fall höchst unbehaglich. Sie verschlechtert sich unvermeidlich, wenn ein Krieg ausbricht und der Zwerg darauf besteht, neutral und unabhängig zu bleiben. Ein machtstrotzender Nachbar kann den Druck auf den kleinen Staat vermehren und seine Gefügigkeit trotz aller Neutralität erzwingen, indem er über die Grenze hinweg Kräfte mobilisiert, die ihm freundlich oder gar verehrungsvoll gegenüberstehen. Vom Giganten bedrängt, wird der neutrale Zwerg in die Alternative hineingetrieben, physisch vernichtet zu werden oder moralisch zu kapitulieren. Seine Staatsmänner müssen dann zwischen Mord und Selbstmord lavieren und sich auf Kompromisse und Demütigungen einlassen.
Für den Historiker ist es leichter als für den politischen Führer, zu sagen, wo die Grenze der Anpassung gezogen werden solle. Da sich der politische Führer ohne Zeitverlust entscheiden muss, steht er immer wieder vor einem qualvollen Dilemma. So musste die Regierung der kleinen Schweiz zu Beginn des Zweiten Weltkriegs unter offensichtlichem Druck darauf verzichten, die Nationalsozialistische Partei aufzulösen, die, wenn sich Hitler je entschlossen hätte, die Schweiz in den Umkreis seiner »Neuen Ordnung« einzubeziehen, dem Dritten Reich als Stoßtrupp gedient hätte. Womit wurde diese Selbstknebelung begründet? Der Vorsteher des Eidgenössischen Militärdepartements hatte, wie es später in einer amtlichen Veröffentlichung hieß, den Nationalrat darauf hingewiesen, »daß im deutschen Hauptquartier nicht nur normale, sachliche Erwägungen zu Entschlüssen führten, sondern daß oft aus momentanen Stimmungen, Verstimmungen, in Zorn entschieden würde. Eine Auflösung der deutschen Organisationen in der Schweiz hätte zu einer solchen stimmungsmäßigen Entschlußfassung Hitlers im Sinne einer Aktion gegen unser Land führen können.«69
Wird solches Seiltanzen mit allen Demütigungen, die es mit sich bringt, zum einzigen Mittel der Selbsterhaltung, so muss das Land mit nationaler Überempfindlichkeit reagieren. Mit Entrüstung wird jeder verurteilt, der im Innern dazu beiträgt, dass solche untragbaren Zustände entstehen oder von der bedrohlich starken Auslandsmacht ausgeschlachtet werden. Es war nur natürlich, dass Anhänger des Nationalsozialismus, die sich an hitlerfreundlichen Umtrieben in der Schweiz beteiligt hatten, in dem Augenblick vor Gericht gestellt wurden, da die akute Gefahr für die nationale Sicherheit vorbei war.70
Während des Krieges war patriotisches Verhalten für die meisten Schweizer das Gegebene und Selbstverständliche. Nur am Rande der Gesellschaft gab es kleine nazifreundliche Gruppen; in dem Maße, wie der außenpolitische Druck zunahm, gewannen sie einigen Anhang unter Menschen, die sich weniger aus Überzeugung als aus Opportunitätsgründen anzupassen bereit waren. Solange noch die Gefahr der Invasion drohte, konnte gegen diese durchsichtige Neigung, sich für den Fall der Katastrophe ein schützendes Obdach zu sichern, kaum viel unternommen werden. Umso dringlicher schien radikales Durchgreifen, nachdem der Krieg vorüber war; die moralische Norm patriotischen Verhaltens sollte – zum Teil wenigstens – nicht mehr in Notverordnungen der Exekutive, sondern in Vorschriften der ordentlichen Gesetzgebung verankert werden. Der dringende Wunsch, die Schweiz aus internationalen Verwicklungen herauszuhalten, verflocht sich gewissermaßen mit dem moralischen Verlangen, die Grundsätze patriotischen Verhaltens zu zwingenden Geboten zu machen.
Traditionell waren die Schweizer einer Verschärfung der Staatsschutzbestimmungen wenig zugetan. Vorschläge für eine schärfere Fassung der Sicherheitsbestimmungen waren in den zwanziger und dreißiger Jahren wiederholt durch Referendum verworfen worden. Erst die Erfahrungen der Kriegszeit brachten es mit sich, dass dieser althergebrachte Widerstand ins Wanken kam. Verschiedene Notverordnungen vom Ende der dreißiger und aus den vierziger Jahren wurden 1950 in aufeinander abgestimmten Vorschriften des regulären Strafrechts zusammengefasst.71
Eine der weitestgehenden Bestimmungen, der neue Artikel 272 des Strafgesetzbuches, richtet sich gegen politische Nachrichten, die ausländischen Interessen dienen. Anders als in den übrigen Teilen der neuen Gesetzgebung ist die Bestrafung hier nicht an die Weitergabe unwahrer Behauptungen und auch nicht an vorsätzliche Unterstützung anti-schweizerischer Bestrebungen geknüpft. Strafbar ist schon die Weitergabe von Informationen an ausländische Empfänger, wenn sie der Schweiz oder schweizerischen Interessen zum Nachteil gereicht.72 Angewandt wurde diese verschärfte Bestimmung in einigen Fällen, über die keine ausführlichen Berichte vorliegen: Einmal handelte es sich um einen schweizerischen Geschäftsmann, der die Konsulatsbehörden der Vereinigten Staaten über die nationalsozialistische Vergangenheit eines Konkurrenten informiert hatte, ein andermal um Material über linksgerichtete Personen und Gruppen in der Schweiz, das dem Büro des amerikanischen Senators McCarthy zugeleitet worden war.73
Der große Fall, an dem sich die neue Bestimmung zu erproben hatte, kam 1952, als der Bundesrat die erforderliche Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens vor dem Bundesstrafgericht gegen Professor André Bonnard, Dozent für griechische Literatur an der Universität Lausanne, erteilte. Kein eingeschriebenes