Das Urteil fiel gnädig aus. Agartz wurde mangels Beweises und seine wenig informierte Sekretärin »mangels Tatverdachts« freigesprochen. Der Kraftwagenfahrer, der die Geschäftsverbindung zwischen Agartz und den Ost-Berliner Gewerkschaftsinstanzen aufrechterhalten und das Geld herübergeschmuggelt hatte, erhielt als »konspirativer Helfer verfassungsfeindlicher Kräfte« acht Monate Gefängnis. Die Geringfügigkeit der Strafe, die auch noch voll auf die verbüßte Untersuchungshaft angerechnet wurde, erklärte das Gericht damit, dass der konspirative Fahrer »nicht den Eindruck eines Fanatikers, sondern den eines Geschäftsreisenden« gemacht habe.85
Es ist möglich, dass sich die Richter einige Überlegungen zu Herzen genommen hatten, die von der Verteidigung während des Prozesses angestellt worden waren. Auch von ihrem Standpunkt aus musste bedacht werden, dass seit Jahren nicht nur ostdeutsche Gelder nach dem Westen, sondern auch westdeutsche Gelder nach dem Osten flossen, zum Beispiel von kirchlicher Seite für kirchliche Zwecke; als Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche musste Agartz’ Verteidiger Gustav Heinemann über das Ausmaß dieser interzonalen Spenden ausreichend unterrichtet und in der Lage sein, die Richter gegebenenfalls inoffiziell auf die Tragweite etwaiger östlicher Repressalien aufmerksam zu machen. Nicht nur waren den DDR-Behörden Zuwendungen an Kirchenstellen in ihrem Bereich mindestens ebenso unerwünscht wie in den Augen des Westens östliche Subventionen an westliche Publikationen, sondern es war ihnen auch jeder Vorwand willkommen, die Kontrolle kirchlicher Organisationen zu verschärfen.86
Wenn sich die Richter dieser Falle bewusst waren, haben sie in der Urteilsbegründung verständlicherweise nicht davon gesprochen. Aber ihre Eventualdeutung des Rätsels um den geheimnisvollen Anruf bei der Berliner Kriminalpolizei, der die Ostfinanzierung des Agartzschen Unternehmens hatte auffliegen lassen, ließ erkennen, dass ihnen eine mögliche andere Falle nicht entgangen war. Sie wiesen ausdrücklich darauf hin, dass die politische Führung der DDR an einem westdeutschen Verfahren gegen Agartz ein starkes Interesse haben konnte, weil ihre Propaganda damit die Möglichkeit gewann, in den düstersten Farben auszumalen, wie sehr die Bundesrepublik entschlossen sei, den »Weg der Ausschaltung der gesamten linken Opposition und einer Unterdrückung der Gewerkschaften« zu gehen.87 Im Übrigen bemühten sich die Richter, alles zu vermeiden, woraus sich ein Präzedenzfall hätte konstruieren lassen, mit dem ihre vorher erarbeitete umstrittene Auslegung des Gesetzes eingeengt worden wäre. Nach dieser Auslegung braucht die Beseitigung der in § 88 des Strafgesetzbuches geschützten Verfassungsgrundsätze nicht ein tragendes »oder gar das tragende« Motiv des Täters zu sein; er mache sich schon schuldig, wenn er verfassungsfeindliche Bestrebungen anderer wissentlich fördere.
Obwohl das Gericht an dieser Konstruktion ohne Einschränkung festhielt,88 gelangte es zu Agartz’ Freispruch, weil es nicht mit Sicherheit den Schluss glaubte ziehen zu können, dass Agartz den Willen gehabt habe, sich dem feindlichen Unterfangen in vollem Umfang einzuordnen und sich zu »einem dienenden Helfer seiner Partner« zu machen. Mit anderen Worten: Es ist möglich, dass ein Narr, jemand also, der glaubt, dass er für die ihm erwiesene Gunst auch bei der Endabrechnung keinen Preis werde zu erlegen haben, zugleich auch ein Schuft ist; das ist aber auch für das Gericht nur eine Möglichkeit, keine Gewissheit, und auch die Möglichkeit ist umstritten. Weil sie umstritten bleibt, findet sich immer noch ein enger Kanal für Menschen, die gegen den Strom auch dann noch schwimmen wollen, wenn sie in der Zweideutigkeit der eigenen Lage oder doch mindestens in der verrufenen Gesellschaft, in die sie geraten, Warnsignale gegen jegliches Schwimmen erkennen sollten.
Was auf den ersten Blick als kunstvolles Jonglieren mit Abstraktionen hinsichtlich verschiedener Segmente der mens rea erscheint, spiegelt in Wirklichkeit die entscheidende Ambivalenz der objektiven Situation wider: Wer sich, um Veränderungen in der inneren Struktur der Bundesrepublik herbeizuführen, nach Hilfe von außen umschaut, verschafft damit, auch wenn er es nicht beabsichtigt und es ihm unwillkommen ist, den geschworenen Feinden des Staatsgebildes eine gewisse Einbruchsmöglichkeit. Möglicherweise hatte das Gericht das Bedürfnis, jedem westdeutschen Bürger das Recht zu sichern, Kontakte mit amtlichen ostdeutschen Stellen aufzunehmen und Gespräche mit ihnen zu führen; jedenfalls stellte es dies Recht nach dem Agartz-Freispruch erneut unter seinen Schutz, als es den Arzt Wolfgang Wohlgemuth, dem John vorgeworfen hatte, ihn nach Ost-Berlin verschleppt zu haben, und der nicht bestritt, das Zusammentreffen Johns mit amtlichen ostdeutschen Gesprächspartnern organisiert zu haben, von der Anklage landesverräterischer nachrichtendienstlicher Verbindungen freisprach.89 Es bedarf offenbar einer Gerichtsentscheidung, damit es möglich werde, freundliche Begegnungen und gewisse Übereinstimmungen in Denk- und Betrachtungsweisen von etwas wesentlich anderem abzugrenzen: davon, dass man sich in feindliche Pläne hineinziehen lässt und sich ihnen unterordnet. Das allein zeigt, welche schädlichen, aber unvermeidlichen Konsequenzen daraus folgen, dass die Sphäre der als legitim und zulässig angesehenen politischen Betätigung eingeengt wird.
Logischerweise kommen solche Konsequenzen in einem gespaltenen Land, in dem es auch über rein technische Kontakte hinaus noch Gemeinsamkeitsbereiche gibt, am schärfsten zum Ausdruck. Da aber im Spielraum der politischen Freiheit hüben und drüben sehr beträchtliche Unterschiede bestehen, fallen der östlichen Staatsgewalt zusätzliche Möglichkeiten in den Schoß: Sie kann die weiterreichende Freiheitssphäre ihres westdeutschen Gegners für ihre eigenen Zwecke ausnutzen. Jeder Versuch, diesen strukturellen Nachteil des Westens zu reduzieren, ohne dass der Andersdenkende dabei zwangsweise zum Gefangenen würde, scheint der Quadratur des Zirkels zu gleichen. Besonders nachdem es in Westdeutschland Sitte geworden ist, Lehrmeinungen nur zum Umlauf zuzulassen, wenn sie ein einwandfreies Herkunftszeugnis vorweisen können, werden solche subtilen Unterscheidungen umso unerlässlicher sein, je schwieriger sie sich gestalten werden.
5. Prozesspraxis außerhalb des rechtsstaatlichen Raums
Rechtsstaatliche, verfassungsmäßige Regierungen haben es in der Geschichte nicht selten zuwege gebracht, die Betätigungsmöglichkeit ihrer Gegner drastisch zu beschneiden. Wenn sie aber diese Gegner aus dem Leben des Staatsgebildes ganz und gar – sei es durch Tod, sei es durch Freiheitsentzug – ausschalten wollen, müssen sie sich der Apparatur des Gerichts bedienen und alle vorher beschriebenen Risiken und Gefahren, die einem solchen Verfahren anhaften, auf sich nehmen. Wenn hier von rechtsstaatlichem oder nichtrechtsstaatlichem Raum, von verfassungsmäßigen oder nichtverfassungsmäßigen Bedingungen die Rede ist, so ist damit keine polemische Absicht verbunden. Dass ein Regime außerhalb des rechtsstaatlichen Raumes liege oder nicht unter verfassungsmäßigen Bedingungen funktioniere, sind Kurzformeln, die zwei Dinge bezeichnen sollen: einmal ein hohes Maß der Unterordnung des Justizapparats unter die politische Herrschaftsstruktur der Gesellschaft, zum andern das, was daraus folgt: dass die Gerichte beim Ausgleich der Interessen des Einzelmenschen auf der einen und der herrschenden Staatsordnung auf der anderen Seite keine oder eine nur geringfügige Rolle spielen.
Unter solchen nichtverfassungsmäßigen Bedingungen ist der Gerichts prozess nicht das einzige oder unumgängliche Mittel, mit dem aktive oder früher aktive politische Gegner aus dem Weg geräumt werden können; erst recht gilt das von Menschen, die nur »objektiv« als Gegner erscheinen, das heißt von Angehörigen bestimmter Kategorien, deren Regimefeindlichkeit nicht auf Grund konkreter Beschuldigungen festgestellt, sondern aus abstrakten, der (gesellschaftlichen, nationalen oder ethnischen) Kategorie zugeschriebenen Merkmalen abgeleitet wird. Man kann sich seiner Gegner auch mit rein administrativen Maßnahmen entledigen: Man kann sie ohne jedes Verfahren töten, auf völlig unbestimmte Zeit ins Gefängnis werfen oder verbannen oder auch zeitlich begrenzte Haft- oder Verbannungsmaßnahmen anordnen. Ob administrative oder gerichtliche Beseitigung der Gegner vorgezogen wird, entscheidet sich nach Gesichtspunkten, die selten starr oder für