Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
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sich das Land nach außen verteidigen soll, dann dürfen sich seine Arbeiter nicht ›verraten‹ fühlen!«62

      Für die sozialdemokratische Gefolgschaft von 1924 und sogar für die möglichen künftigen Anhänger, die die Sozialdemokratie nun, nach der Verschmelzung der Mehrheitspartei mit den Unabhängigen, dem Wirkungsbereich der Kommunisten hätte entziehen müssen, war das, was die sozialdemokratische Führung im Januar 1918 getan hatte, entweder von minimalem Interesse oder geradezu ein Ehrentitel. In den Augen ihrer Gegner aber war Ebert im Voraus verurteilt als Repräsentant der zwiespältigen sozialdemokratischen Haltung vom Januar 1918, die sich eben daraus ergeben hatte, dass zwischen der Politik des offiziellen Deutschlands, des Deutschlands Ludendorffs, und den Gefühlen und Erwartungen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung und der sie schlecht oder recht vertretenden Sozialdemokraten ein unüberbrückbarer Abgrund klaffte. Möglich ist freilich, dass sich Ebert und seine Anwälte in Magdeburg nicht nur von Gesinnungszwang, sondern auch von taktischen Überlegungen leiten ließen. Möglich ist, dass Ebert der Meinung war, er müsse als Reichspräsident und eventueller Präsidentschaftskandidat gerade die unentschlossenen und unentschiedenen Teile der Wählerschaft hofieren, die sich an die Vorstellung des kontinuierlichen organischen Zusammenhangs zwischen kaiserlichem und republikanischem Deutschland klammerten und denen es ein inneres Bedürfnis war, alles aus dem Bewusstsein zu verdrängen, was zum Zusammenbruch der alten Ordnung geführt hatte.

      Als die Reichsregierung, der ein Deutschnationaler und drei Mitglieder der Deutschen Volkspartei angehörten, vom Urteil erfuhr, beschloss sie einstimmig eine Kundgebung an den Reichspräsidenten, in der sie ihre Überzeugung aussprach, seine Tätigkeit habe »stets dem Wohl des deutschen Vaterlands gedient.« Für die Presse der Rechten und für viele Politiker der Rechtsparteien war das wieder ein Anlass, sich zu entrüsten und Ebert zu beschimpfen.

      Ebert war schon seit über sechs Jahren tot, als das Reichsgericht mit einer entschiedenen Zurückweisung der Magdeburger Landesverratstheorie seine Ehrenrettung unternahm. In einem neuen Verfahren wegen Beleidigung des toten Reichspräsidenten, in dem sich der Angeklagte zu seiner Entlastung auf das Urteil des Magdeburger Schöffengerichts berief, wurde den Magdeburger Kollegen die Belehrung zuteil, dass ihrer Rechtsinterpretation durch eine ältere höchstgerichtliche Entscheidung die Basis entzogen worden sei. Ein Urteil des vereinigten II. und III. Strafsenats des Reichsgerichts vom 5. April 1916 wurde ausgegraben, in dem das Vorliegen eines Landesverrats verneint worden war, obgleich der Angeklagte, ein deutscher Großkaufmann, mitten im Krieg die Belieferung seiner russischen Fabriken mit schwedischem Stahl vermittelt hatte. Hätte der Angeklagte, so wurde argumentiert, keine Stahllieferungen mehr ins Feindesland gehen lassen, so wären die Werke, in denen landwirtschaftliche Geräte hergestellt wurden, von der russischen Regierung beschlagnahmt und in den Dienst der Kriegsproduktion gestellt worden; dem Angeklagten sei also zugute zu halten, dass der größere Schaden mit seiner Hilfe verhütet worden sei. (Vom »totalen Krieg« und davon, dass auch landwirtschaftliche Geräte die Wehrkraft eines kriegführenden Landes erhöhen, war noch nicht viel bekannt.)

      Diese Argumentation wurde nun von den Reichsgerichtsräten von 1931 auf den Fall Ebert angewandt. »In ähnlicher Weise«, sagten sie, »ist auch das Verhalten eines Arbeiterführers zu beurteilen, der während eines Kriegs in die Leitung eines von radikalen Elementen angezettelten, für die deutsche Kriegsmacht nachteiligen Streiks eintritt mit der Willensrichtung, wieder Einfluß auf die von den radikalen Elementen aufgehetzten Arbeiter zu gewinnen, sie zur Besonnenheit zu ermahnen und ein möglichst baldiges Ende des Streiks herbeizuführen.«