Die recht weitschweifigen Zeugenaussagen konzentrierten sich auf zwei miteinander verflochtene Fragen: 1. Welche Beweggründe hatten den sozialdemokratischen Parteivorstand veranlasst, sich an der Streikleitung von 1918 zu beteiligen? 2. Wie hatte sich Ebert in der Streikleitung und namentlich in einer Massenversammlung der Streikenden, die am 31. Januar 1918 in Treptow im Freien abgehalten wurde, verhalten?
Das große Zeugenaufgebot zerfiel in vier deutlich unterscheidbare Gruppen. Zur ersten gehörte die treue Mannschaft sozialdemokratischer Funktionäre, darunter auch der längst nicht mehr radikale frühere USPD-Parlamentarier und Streikleitungsteilnehmer Wilhelm Dittmann (1874 - 1954), der in derselben Treptower Versammlung nach Ebert das Wort genommen hatte, aber von der Polizei am Weiterreden gehindert, vor ein Kriegsgericht gestellt und zu fünfjähriger Festungshaft verurteilt wurde. Die Aussagen dieser Funktionäre kreisten um einen einfachen Gedankengang: Nachdem der sozialdemokratische Parteivorstand von Anfang an gegen den Streik gewesen sei, habe er sich für die Teilnahme an der Streikleitung entschlossen, um den Streik auf diese Weise so schnell wie möglich zum Abschluss zu bringen; selbstverständlich habe Ebert diesen Vorstandsbeschluss befolgt. Darüber hinaus wurde die insgesamt vaterlandstreue Haltung der Sozialdemokratischen Partei hervorgehoben, die 1917/18 von allen Regierungsorganen lobend anerkannt worden sei. Eberts eigene Darstellung deckte sich im Wesentlichen mit den Aussagen dieser Zeugengruppe.
Die zweite Gruppe bildeten Zeugen, die linkssozialistischen Gruppierungen entweder früher angehört hatten oder noch angehörten, der Sozialdemokratischen Partei mehr oder minder feindlich gegenüberstanden und am Streik von 1918 in dieser oder jener Form teilgenommen hatten; auch der einstige Vorsitzende der Berliner Streikleitung, der Kommunist geworden war, war darunter. Diese Zeugen betonten, dass der sozialdemokratische Parteivorstand aus höchst eigensüchtigen Motiven zur Streikleitung gestoßen sei, um das Ansehen der Mehrheitspartei in den Augen der Arbeitermassen zu heben; in den Jahren zuvor habe die Partei infolge ihrer überpatriotischen Haltung schwere Einbußen erlitten. Außer einem einzigen Zeugen, der inzwischen zur extremen Rechten abgeschwenkt war, bestätigten diese Linken bereitwilligst, dass Ebert – wenn auch vergebens – versucht habe, die Forderungen der Streikenden abzumildern; von ihrem Standpunkt aus war Ebert damit nur noch mehr als »Sozialpatriot« belastet. Mit dieser Version stimmte die Darstellung eines parteilosen Zeugen überein, der Eberts Treptower Rede vom 31. Januar als Journalist gehörte hatte. Eberts Dilemma, meinte er, habe darin bestanden, dass er sich einerseits gegen eine äußerst kritische Zuhörerschaft habe durchsetzen müssen, ihr aber anderseits nicht allzu sehr habe entgegenkommen können, um sich nicht mit seiner eigenen Politik in Widerspruch zu setzen: einer Politik der entschiedensten Landesverteidigung bis zu einem Zeitpunkt, zu dem der Abschluss eines ehrenhaften Friedens möglich geworden wäre.
Die größte öffentliche Beachtung zog die dritte Gruppe auf sich, die gleichsam bestellten Zeugen. Sobald das politische Potential des Prozesses in Rechtskreisen erkannt worden war, unternahm es ein als Berliner Lokalgröße bekannter deutschnationaler Landtagsabgeordneter, im Nebenberuf Pfarrer, Zeugen zu suchen, die mit »interessanten« Aussagen aufwarten könnten. Mit ihrer Vernehmung verschob sich das Schwergewicht der Beweisaufnahme von Eberts umstrittenen Beweggründen und Zielen zu den konkreten Vorgängen in der Versammlung vom 31. Januar. Jetzt tauchte die Behauptung auf, Ebert habe in Treptow auf eine schriftliche Frage, wie sich die Arbeiter gegenüber Einberufungsbefehlen zu verhalten hätten, antworten müssen. Ohne Zweifel war die Frage von brennendem Interesse, denn die Behörden hatten seit Kriegsbeginn »Rädelsführer« der Unzufriedenen und Murrenden dadurch mundtot zu machen gesucht, dass sie sie als Soldaten einzogen. Nun hieß es, Ebert habe den Streikenden den Rat gegeben, Gestellungsbefehle nicht zu beachten. Ebert selbst konnte sich an den Vorgang nicht mit voller Klarheit erinnern. Allerdings widersprachen solche zweifellos präparierten Aussagen nicht nur der bis dahin bekannten Gesamtlinie der Ebertschen Politik, sondern auch dem, was bei Diskussionen im sozialdemokratischen Parteivorstand zu diesem konkreten Punkt geäußert worden war. Überdies wurde das Hauptparadepferd unter diesen organisiert zusammengesuchten Zufallszeugen, dessen Behauptungen den politischen Bedürfnissen der äußersten Rechten am ehesten entgegenkamen, so gründlich diskreditiert, dass das Urteil seiner Aussage keine Beachtung schenkte.
Eine vierte Gruppe stellten offizielle Persönlichkeiten aus der Kriegszeit, darunter auch Generale und Polizeioffiziere, bestimmt keine Freunde oder Anhänger der Sozialdemokraten. Nichts, was Ebert belastet hätte, kam aus Polizeiberichten über den Streik zum Vorschein. Die Aussagen der Generale, Beamten und Politiker zeigten Unterschiede, die offenbar mit ihrer verschiedenen politischen Einstellung zur Zeit des Prozesses zusammenhingen. Die einen sprachen von der Munitionsknappheit, die möglicherweise durch Streiks verursacht worden sei, oder deuteten an, dass ihre Kriegsanstrengungen bei den Sozialdemokraten keine ausreichende Unterstützung gefunden hätten. Die anderen unterstrichen umgekehrt die großen Verdienste der Sozialdemokraten um die Landesverteidigung und die Stärkung der nationalen Abwehrkraft. Eberts Anwälte konnten dem Gericht sogar einen Brief Hindenburgs vom Dezember 1918 vorlegen, in dem Ebert Vaterlandsliebe und patriotische Gesinnung bescheinigt wurden.
In dem eifrigen Bemühen, ihren Mandanten als guten Patrioten erscheinen zu lassen, hatten Eberts Anwälte allerdings eine beachtliche Klippe zu umschiffen: las man das offizielle sozialdemokratische Organ, die Berliner Tageszeitung Vorwärts, aus dem Jahre 1918, so mochte man zu einer etwas anderen Lesart der sozialdemokratischen Politik gelangen. Es hörte sich nicht sehr überzeugend an, wenn Eberts Anwälte bestritten, dass die Zeitung die Haltung der Partei repräsentiert habe. Beachtet man aber den Tenor der redaktionellen Stellungnahme der Zeitung in der kritischen Zeit, so treten zwei Gesichtspunkte unmissverständlich hervor: 1. Der Streik war der Partei völlig überraschend gekommen, und sie hatte mit seinem Ausbruch nicht das Geringste zu tun; 2. es war nicht daran zu denken, dass die Sozialdemokratische Partei eine dem Streik feindliche Stellung beziehen könnte. Die Sozialdemokraten hätten Massenstreiks im Krieg zwar nicht gewollt und nicht für möglich gehalten, aber die Dinge seien »eben oft stärker als die Menschen«, schrieb die Zeitung nach dem Abbruch des Streiks.60
Denkbar ist, dass die anfängliche Genugtuung der Parteileitung über die Aufnahme offizieller Parteivertreter in die Streikleitung von der Redaktion des Vorwärts überbetont wurde; ihre Artikel ließen aber jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Sozialdemokratische Partei, was immer geschehen möge, auf Seiten der Streikenden stehen werde, wenn auch zugleich die Hoffnung ausgesprochen wurde, dass die Regierung die Forderungen der Streikenden »einer gewissenhaften Prüfung unterziehen und alles tun {werde}, was in ihren Kräften steht, um eine Einigung herbeizuführen«.61 Am 30. und 31. Januar durfte die Zeitung auf Anordnung des Oberkommandos in den Marken nicht erscheinen, weil sie »eine Aufforderung zum Massenstreik veröffentlicht« habe: Der Oberbefehlshaber in den Marken hatte das am 29. Januar bekundete Einverständnis der Redaktion mit den »Forderungen der Arbeiter« wohl nicht ganz falsch gedeutet.
Nach dem Scheitern des Streiks wehrte sich die Zeitung erbittert gegen den von der reaktionären Presse erhobenen Vorwurf des »Landesverrats« wie gegen die in »anonymen Flugblättern« enthaltene Prophezeiung, die Sozialdemokratie werde »Arbeiterverrat« begehen. »Szylla und Charybdis!« rief das Blatt empört aus. »Die Sozialdemokratie«, hieß es weiter, »treibt weder ›Landesverrat‹ noch ›Arbeiterverrat‹. Denn die Arbeiter und das Land gehören zusammen, und