Das letzte Wort des Angeklagten zeugte eher von politischer Konsequenz und Redlichkeit als von juristischer Logik. Allzu geschickt war die Art nicht, wie Caillaux darzulegen versuchte, dass er sich gegen das Gesetz nicht vergangen habe; unbestreitbar dagegen war die Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit seiner politischen Argumentation. »Stahl und Eisen sind die direkten und indirekten Urheber des Krieges«, hatte er in der Anfangsphase der Verhandlungen49 verkündet, und darauf kam er immer wieder zurück. Dem Vorwurf, dass er sich 1916/17 ohne Rücksicht auf interalliierte Verpflichtungen um einen deutsch-französischen Frieden bemüht habe, begegnete er stolz mit der Erklärung, mit diesen Bemühungen habe er sich ein großes Verdienst erworben; was er 1911 zur Erhaltung des Friedens getan habe, habe den Ausbruch des Krieges um drei Jahre hinausgeschoben und Frankreich ganz anders als bei der Überraschungskatastrophe von 1870 genug Zeit gelassen, seine Verteidigungsmittel auszubauen. Die unausweichliche Doppeldeutigkeit der Geschichte war ein schwer widerlegbares Entlastungsargument: Wer einen Krieg vermieden hat, kann sich darauf berufen, dass er seinem Land die Chance gesichert habe, künftigen Gefahren besser vorzubeugen. Unwiderleglich war auch Caillaux’ Zukunftsperspektive: Sein zentrales Ziel, die Schaffung eines vereinten Europas, hatte seit der Vorkriegszeit weder an Überzeugungskraft noch an Dringlichkeit verloren.
Das Urteil der Haute Cour war ein Kompromiss. Mit einem aus der Französischen Revolution überlieferten Wort nannte es Caillaux »eine Maßnahme«, eine politische Entscheidung, nicht einen Akt der Gerechtigkeit.50 Das Gericht erklärte, dass eine schuldhafte Absicht des Angeklagten, die Sache des Feindes zu unterstützen, nicht festgestellt worden sei; infolge des »Verkehrs« des Angeklagten mit dem Feinde seien jedoch der feindlichen Koalition gefährliche politische und militärische Informationen zugetragen worden, womit sich der Angeklagte nach Artikel 78 des Code pénal strafbar gemacht habe.51 Vergebens wies Demange darauf hin, dass Caillaux, der wegen Verstoßes gegen Artikel 79 (Komplott zur Untergrabung der äußeren Sicherheit des Staates) und gegen Artikel 77 (Aufnahme von Verbindungen mit dem Feind) unter Anklage gestanden habe, nun wegen eines Verbrechens verurteilt werde, von dem er schon deswegen nicht habe beweisen können, dass er es nicht begangen habe, weil er dieses Verbrechens gar nicht beschuldigt worden sei. Das Urteil lautete auf Gefängnis für die Dauer von drei Jahren, Aufenthaltsbeschränkung für die Dauer von fünf Jahren und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte für die Dauer von zehn Jahren.52 Die Dauer der Gefängnishaft war darauf berechnet, die sofortige Freilassung des Verurteilten, der über zwei Jahre in Untersuchungshaft gehalten worden war, zu ermöglichen. Das Urteil fand die Zustimmung von 150 Senatoren; eine starke Opposition ließ sich jedoch auch durch die Gnadenarithmetik nicht umstimmen: 98 Senatoren gaben ihre Stimme für Freispruch ab.
Die kautschukartige Natur der Strafrechtsklausel über den Verkehr mit dem Feinde war schon früher von Rechtslehrern angefochten worden; Unvorsichtigkeit in Beziehungen solcher Art, meinte ein führender Kommentator, sei eher ein Fehler als ein Verbrechen.53 Im Gegensatz zum Artikel 78 des französischen Strafgesetzbuches, wie er 1920 in Kraft war, bestraft der jetzt geltende Text (seit Juli 1939 Artikel 79 Absatz 4, neuerdings, seit Juni 1960, Artikel 81) jeden, der in Kriegszeiten ohne Genehmigung der Regierung Beziehungen mit Staatsangehörigen oder Agenten des Feindes unterhält. Jetzt bedarf es nicht mehr des Beweises, dass dem Staat durch die dem Feind zugetragene Information Schaden zugefügt worden sei; die Beweislast liegt auch nicht mehr bei der Anklagebehörde: Der Angeklagte muss nachweisen, dass er im Einvernehmen mit der Regierung gehandelt habe.54
Zur Zeit des Caillaux-Prozesses waren diese verschärften Bestimmungen noch nicht in Kraft, und das Urteil der Haute Cour rief allenthalben scharfe Kritik hervor. Weder der Caillaux vorgeworfene Umgang mit Feindesagenten noch die Beschuldigungen nach Art. 77 und Art. 79, die der Senat fallen ließ, hatten sich mit schuldhaftem Vorsatz in Beziehung setzen lassen. Der einzige Brief, den Caillaux je an einen deutschen Agenten geschrieben hatte, sagte, dass der Schreiber mit dem Adressaten nichts zu tun haben wolle. Als Zeuge vor dem Senat hatte Henry de Jouvenel treffend erklärt, Caillaux habe sich nicht des Einvernehmens mit dem Feinde, sondern des fehlenden Einvernehmens mit den Alliierten schuldig gemacht.55 Der vage Inhalt der Anklage war damit vielleicht noch am besten gekennzeichnet.
Was bewirkte nun eigentlich der so lange hinausgezögerte Prozess? Zweifellos lag seine Bedeutung nicht im Urteilsspruch. Sobald das neue Linkskartell bei den Wahlen vom 11. Mai 1924 die konservative Koalition geschlagen hatte, löschte eine Amnestie das Urteil mit all seinen Folgewirkungen aus; Caillaux wurde zum Senator gewählt, und im April 1925 war er von neuem Finanzminister.56 Das Entscheidende war, dass ein Zusammentreffen verschiedener Umstände Poincaré und Clemenceau Ende 1917 die Chance in die Hand gespielt hatte, einen Strafrechtsfall Caillaux zu inszenieren. So konnte Caillaux in den letzten Stadien des Krieges vom politischen Schlachtfeld entfernt und nicht nur als schlechter Patriot und Gegner der nationalen Sammlung der öffentlichen Missbilligung preisgegeben, sondern auch als Verräter und feindlicher Agent durch den Schmutz gezogen werden.
Als das Urteil 1920 schließlich gefällt wurde, kam es auf die Verurteilung des Verleumdeten kaum noch an. Aber in den trüben Wintertagen von 1917/18 war die Ausschaltung Caillaux’ von überragender Bedeutung gewesen. Und die Möglichkeit, Symbolbilder von anhaltender Wirkung zu prägen, auf die die Regierung in dieser kritischen Zeit besonders angewiesen war, hatte mit dem Klischee »Caillaux unter Beschuldigung des Landesverrats verhaftet« einen gewaltigen Auftrieb bekommen.
Die Symbolik der Kriegszeit verblasste sehr schnell. Von ihr war nichts mehr übrig, als nach zehnjähriger Pause eine neue Linkskoalition unter Herriot zur Macht kam und sich mit der entzauberten und ernüchternden politischen Wirklichkeit der zwanziger Jahre auseinandersetzen musste.
b) Das geschmähte Staatsoberhaupt: Fall Ebert
Ist die Landesverratsanklage die schwerste und ungeschlachteste Waffe im Kampf um die politische Macht, so sind die Mittel, mit denen man einen politischen Gegner zu Beleidigungs- oder Verleumdungsklagen zwingen kann, fast wie ein Florett: handlicher, beweglicher, zweideutiger. Und da diese Mittel auch denen zugänglich sind, die am Genuss der Macht nicht teilhaben, wird von ihnen auch sehr viel häufiger Gebrauch gemacht. Ihre Wirksamkeit ist von Land zu Land verschieden. Sie hängt einerseits mit nationalen Unterschieden in den gesetzlichen Vorschriften, anderseits damit zusammen, wie sich die Allgemeinheit und die Richter zu Verunglimpfungen im politischen Bereich stellen.57
Diffamierung in der politischen Sphäre mit anschließenden Beleidigungs- und Verleumdungsklagen war in der Weimarer Republik sehr früh zur Alltagserscheinung geworden. Diese Waffe konnten die Deutschnationalen schon 1920 gegen den vielseitigsten und einfallsreichsten, wenn auch vielleicht nicht allerskrupelhaftesten Politiker der Periode, den Zentrumsmann Matthias Erzberger (1875 - 1921), damals Reichsfinanzminister, nicht ohne Erfolg in Anschlag bringen. Von den vielen Fällen, die Erzbergers Vorgänger aus des Kaisers Tagen, sein ärgster Feind Karl Helfferich, Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei, gegen ihn zusammengetragen hatte, um zu beweisen, dass der republikanische Verwalter der Staatsfinanzen Politik und Geschäft auf unzulässige Weise vermenge, erwiesen sich die meisten als gegenstandslos. Doch auch die wenigen Fälle, in denen Helfferichs Anschuldigungen