Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
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müssen, weil seine Sicherheit oder gar sein Leben in Gefahr gewesen sei. Von größerem Interesse ist Johns Gesamtverhalten: Der politische Stil, der sich in der Bundesrepublik herausgebildet hatte, war ihm fremd (oder fremd geworden), ohne dass er zum Gegenstil des Ostens bekehrt worden wäre. Er fand sich im zweigeteilten Land politisch nicht mehr zurecht und wurde zum Wanderer ins Nichts. Die aus einer Augenblickseingebung heraus unternommene Wanderung nach Ost-Berlin, die Halbheiten der Zusammenarbeit mit dem Osten und die Enttäuschung über den Osten, schließlich die überlegte und plangemäß vorbereitete Flucht zurück in die Bundesrepublik (John hätte in ein anderes Land fliehen können): In alledem äußert sich eher die tragische Ratlosigkeit eines labilen und unpolitischen Menschen als zielbewusstes politisches Denken und Handeln. Die vom Bundesgerichthof verhängten vier Jahre Zuchthaus erschienen nicht nur manchen kritischen Beobachtern, sondern auch dem Vertreter der Staatsanwaltschaft, Oberbundesanwalt Max Güde, der zwei Jahre Zuchthaus beantragt hatte, als eine überaus harte Strafe.81

      Ebenfalls wegen Vergehens gegen § 100d stand vor demselben Bundesgerichtshof ein Jahr später, im November und Dezember 1957, ein anderer Angeklagter, Viktor Agartz, dessen Fall erst recht davon abhängen musste, wie die Richter den Unterschied zwischen einem Agenten und einem unabhängigen, auf eigene Faust operierenden Politiker und Publizisten beurteilten. Agartz hatte längere Zeit als Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts der Gewerkschaften (WWI) gewirkt und um 1954 als der theoretische und programmatische Hauptberater des Deutschen Gewerkschaftsbundes gegolten. Seine Tendenz, die deutsche gesellschaftliche Entwicklung in Klassenkategorien zu beurteilen und die Gewerkschaften ausdrücklich auf eine Klassenkampfposition festzulegen, hatte sich indes, auch wenn die DGB-Leitung ihn nicht offiziell desavouierte, insofern als störend erwiesen, als sie Kompromisse und Ausgleich innerhalb der weitverzweigten und weltanschaulich keineswegs homogenen Organisation erschwerte. Außerdem hatten politische Gegner dafür gesorgt, dass der Name Agartz in manchen Kreisen zum Kinderschreck geworden war. Innerorganisatorische Zwistigkeiten und persönliche Auseinandersetzungen, in deren Verlauf sich Agartz weder besonders geschickt noch besonders loyal zeigte, endeten damit, dass er im Dezember 1955 aus dem Dienst der Gewerkschaften entlassen wurde. Darauf versuchte er, unter dem Namen WISO, Korrespondenz für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, eine eigene Publikation herauszugeben. Unter Mitwirkung verschiedener Freunde und Gesinnungsgenossen, zu denen einige ebenfalls entlassene WWI-Mitarbeiter gehörten, übte er scharfe Kritik sowohl an der Politik der Gewerkschaften als auch überhaupt an gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik; Sprache und Argumentation hörten sich marxistisch an und mochten manche Leser an Sprache und Argumentation östlicher Publikationen erinnern.

      An Leser in der Bundesrepublik gingen etwa 400 Exemplare der Zeitschrift; das reichte nicht zur Finanzierung der Publikation. Als ostdeutsche Stellen Agartz Hilfe in Gestalt von 2.000 festen Abonnements anboten, nahm er sie an. Ein unterer Funktionär aus der DDR, der als Fahrer und Kurier fungierte, brachte die »Bezugsgelder« in größeren Beträgen nach Westdeutschland. Diese Geldmittel wurden dann in kleineren Summen, von verschiedenen Orten aus und mit fingierten Absendernamen auf Agartz’ Konto überwiesen. Nach außen hin und vor allem auch bei Agartz’ nichtsahnenden Mitarbeitern konnte somit der Eindruck erweckt werden, als ob die Gelder von einwandfreien echten Beziehern in Westdeutschland stammten. Das sorgfältig getarnte Finanzierungssystem ging in die Brüche, als ein anonymer Anrufer, der sehr wohl im Auftrag der DDR-Staatsorgane gehandelt haben mag, die West-Berliner Kriminalpolizei auf die Spur des Kraftwagens mit dem Fahrer und einem Geldtransport von 21.000 DM lenkte.

      Anders als John, der vor Gericht seinen Antikommunismus betonte und sich auf Zwang und Notstand berief, bekannte sich Agartz ohne Umschweife zu seinem politischen Standpunkt und nahm für sich nachdrücklich die Rolle eines revolutionär-klassenkämpferischen Gesellschaftskritikers in Anspruch. Im Mittelpunkt der Vernehmung des Angeklagten standen Schwarzweißkontraste von Freiheit und Unterdrückung; was Agartz dazu zu sagen hatte, war für die Richter wenig befriedigend, denn er bediente sich in der Beurteilung des gesellschaftlichen Fazits in Ost und West anderer Maßstäbe, als auf die er festgenagelt werden sollte. Seine grundsätzliche Erklärung, dass weder finanzielle Zuwendungen noch persönliche Kontakte mit östlichen Stellen seine politische Unabhängigkeit auch nur im Geringsten beeinträchtigt hätten, fand ihre Bestätigung in einigen Zeugenaussagen und in manchen Schriftstücken, die seinen Akten entnommen worden waren. Dagegen zeichnete die Anklagebehörde unter Berufung auf die östliche Subvention und auf kritische Äußerungen aus Agartz’ Briefwechsel das düstere Bild eines westlichen Stützpunkts für die kommunistische Politik, der mit Agartz’ Hilfe aufgebaut worden sei. Damit sollte der Fall Agartz dem Fall John angeglichen werden: Nicht Johns politische Einstellung, sondern seine Einsicht in die möglichen politischen Folgen seines Tuns war im John-Urteil als das ausschlaggebende Moment gewertet worden.