Der langsame Gang der Voruntersuchung, in deren Verlauf Caillaux immer wieder vom kriegsgerichtlichen Untersuchungsrichter vernommen wurde, die von der Regierung inspirierte Hetzkampagne um den Zwischenfall von Florenz und mancherlei Gerüchte über die angebliche Absicht des Kabinetts, den Fall eher einem willfährigen als dem zuständigen Gericht zuzuleiten, riefen scharfe Kritik der Opposition hervor. Zweimal, im Januar und im Februar 1918, griffen die Sozialisten die Regierung wegen der eigenartigen Handhabung des Falls Caillaux in der Kammer an und verlangten die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Aber noch hielt Clemenceau seine Mehrheit zusammen: Am 15. Januar wurden 369 Stimmen für die Regierung und 105 gegen sie abgegeben, am 8. Februar waren es 374 gegen 99 Stimmen.43 Kein parlamentarisches Untersuchungsverfahren sollte den militärischen Untersuchungsrichtern das Leben schwer machen.
Wem aber war die richterliche Entscheidung anzuvertrauen? Von Anfang an scheint sich Clemenceau der Idee eines Kriegsgerichts widersetzt zu haben: »Ich bin ein Politiker, der gegen einen anderen Politiker vorgeht«, soll er Poincaré entgegengehalten haben.44 War er von Caillaux’ Anspielung auf seine Dreyfus-Vergangenheit beeindruckt? Oder erwartete er, dem es doch bei der ganzen Affäre nur um Mehrung seines Ansehens ging, bei Militärrichtern ein Todesurteil,45 das seinem Prestige nur hätte schaden können? Ob so oder so: Am 13. Oktober 1918 erließ die Regierung ein Dekret, das den Fall der ordentlichen politischen Gerichtsbarkeit, das heißt dem Senat als Haute Cour, zuwies. Die von den Untersuchungsrichtern im Waffenrock begonnene Voruntersuchung wurde von einem Untersuchungsausschuss des Senats weitergeführt.
Der Senatsausschuss verbrachte mit der Vorbereitung des Prozesses weitere sechzehn Monate. Im Februar 1920 trat endlich der Senat als Haute Cour zusammen. Der Krieg war längst vorbei, und die Initiatoren des Verfahrens waren aus der aktiven Politik ausgeschieden: Poincaré vorübergehend, Clemenceau für immer. Aber ihre Jünger hatten am 11. November 1919 die ersten Nachkriegswahlen gewonnen, und ihrer überwältigenden Mehrheit in der »horizontblauen« Kammer46 entsprach ein solider Mehrheitsblock im Senat.
Der Mann Caillaux, wie ihn das dem Senat unterbreitete Belastungsmaterial schilderte, war ein Ausbund der Untugend: in persönlichen Beziehungen mehr als unvorsichtig, in politischen Bindungen von Hass und Ressentiment aus der bösen Zeit des Calmette-Dramas vom Sommer 1914 getrieben, in der Kritik an der Regierungspolitik von Arroganz und Hochmut erfüllt, ein Mensch ohne Wärme, dem kein Mitgefühl zukommt.
Entlastende Aussagen kamen weder von Malvy, dem Freund und Schützling, der von der Landesverratsanklage freigesprochen, aber wegen Amtsmissbrauchs verurteilt worden war, noch von Briand, dem alten Rivalen, der nicht zum horizontblauen Lager gehörte, aber immer noch über großen Einfluss verfügte. Weder der eine noch der andere konnte sich daran erinnern, von Caillaux halbamtlich, wie er behauptete, aber zur richtigen Zeit mitgeteilt bekommen zu haben, dass er die Annäherungsversuche des nämlichen deutschen Agenten zurückgewiesen habe, von dem die Anklageschrift sagte, Caillaux habe mit ihm »in Verbindung« gestanden. Briand, der selbst seit drei Jahren nicht mehr im Amt war, tadelte Caillaux wegen Unklugheit und Unaufrichtigkeit und wollte ihm nicht mehr zugutehalten als die Atmosphäre allseitiger Feindseligkeit und gegenseitigem Misstrauen, die Politiker dazu treibe, tadelnswerte Dinge zu tun; wenn Politiker nicht mehr in der Regierung seien, meinte Briand, werde angenommen, dass sie bis zum äußersten gingen, um wieder hineinzukommen: »Das Unglück ist, dass die Politiker nicht genug Verbindung miteinander haben; wenn sie einander in der Regierung ablösen, könnte man meinen, sie täten es nur, um einander in Stücke zu reißen, während doch zwischen ihnen, was immer ihre politischen Differenzen sein mögen, starke Bande der Solidarität bestehen sollten.«47
Der Anklage stellte sich Caillaux’ Denken und Handeln als Landesverrat dar, der konkret in der Aufnahme von Verbindungen zum Feind zum Ausdruck gekommen sei. Dieser Beschuldigung, in der juristische Gesichtspunkte hinter politischen Überlegungen zurücktraten, lag folgende Argumentation zugrunde: 1. Damit man im Krieg den Sieg erringe, sei es unerlässlich, dass man an ihn glaube und das Vertrauen zur Armee stärke; 2. außer der verantwortlichen Regierung, die allein ausreichend unterrichtet sei, stehe es niemandem, weder einer Person noch einer Institution, zu, darüber zu befinden, wie der Krieg geführt werden solle; 3. wer dem Feind in irgendeiner Form, unmittelbar oder mittelbar, Beistand leiste, begehe ein Verbrechen.48
Unzweifelhaft gab es genug Beweise dafür, dass Caillaux weder an den Sieg geglaubt noch je die Absicht gehabt hatte, der Armee dazu zu verhelfen, das Vertrauen des Volkes zu behalten. Dafür, dass er sich das der Regierung vorbehaltene Recht, die Kriegspolitik zu bestimmen, angemaßt habe, gab es wenig Anhaltspunkte. Gewiss hatte ihn die deutsche Propaganda unentwegt als den wahren Staatsmann und den einzigen Franzosen mit politischem Verständnis hingestellt; aber das war psychologische Kriegführung und konnte dem ohne sein Zutun auserkorenen Objekt, dem Opfer, schwerlich zur Last gelegt werden. Und Beistand für den Feind? Das war eine komplizierte, problemreiche und problematische Konstruktion.
Man unterstelle, die Regierung und die Anklagebehörde hätten mit der Behauptung recht gehabt, dass ein Kompromissfrieden notwendigerweise zur Vorherrschaft Deutschlands hätte führen müssen. Hätte das geheißen, dass die Befürwortung eines solchen Friedens mit Hilfe, Unterstützung und Zuspruch für den Feind gleichbedeutend gewesen sei? Kam es nicht im Gegensatz zur Meinung des Anklägers entscheidend auf den Nachweis eines schuldhaften Vorsatzes an, auf den Nachweis, dass der Angeklagte, und sei es auch nur zögernd, zum willentlichen Entschluss gekommen sei, die deutsche Sache zu fördern, und dass er darüber im klaren gewesen sei, dass er sie förderte? Wurde da nicht etwas erschlichen? Lag der Anklage nicht lediglich der Umstand zugrunde, dass das, was den Deutschen hätte zuträglich sein können, zufällig mit dem zusammenfiel, was der Angeklagte im Interesse eines dauerhaften Friedens für zweckdienlich gehalten hatte?
Die Argumentation der Anklage vernachlässigte eine elementare Tatsache: Die Bemühungen und Anstrengungen entgegengesetzter Kräfte können mitunter parallel verlaufen, ohne dass diese Kräfte von denselben Beweggründen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Von der Verteidigung wurde diese Schwäche der Anklage energisch ausgeschlachtet. Marius Moutet, bewährter Kenner des parlamentarischen Getriebes, und Vincent de Moro-Giafferri, der verdiente Künstler des forensischen Gefechts, nahmen Stück für Stück das Beweismaterial auseinander.