Politische Justiz. Otto Kirchheimer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Otto Kirchheimer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Социология
Год издания: 0
isbn: 9783863935528
Скачать книгу
Dass der Prozess Caillaux immer wieder hinausgeschoben wurde, war aufschlussreich genug, denn ernste politische Hürden waren nicht zu nehmen. Keinerlei Schwierigkeiten bereitete die Aufhebung der parlamentarischen Immunität: Caillaux selbst verlangte ein regelrechtes Gerichtsverfahren. Die Immunitätsdebatte in der Kammer im Dezember 1917 bot ihm eine gute Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen; er ließ sie nicht ungenutzt und hielt eine der eindrucksvollsten Reden seiner langen Laufbahn. Er bestritt nicht, dass er es im Umgang mit verdächtigen Gestalten an Vorsicht habe fehlen lassen; umso größeren Nachdruck legte er auf die lebenswichtigen Probleme, die die Nation – über die bloßen Kriegsmühen hinaus – zu lösen habe. Er versäumte es nicht, den einstigen Journalisten Clemenceau, den mutigen Wortführer im Kampf um Dreyfus, mit dem Premier Clemenceau zu vergleichen, der einen neuen Fall Dreyfus inszeniere. An der Entscheidung des Parlaments vermochte Caillaux’ rednerisches Glanzstück nichts zu ändern. Sie stand im Voraus fest: Einen Monat früher, am 20. November, hatte das Kabinett Clemenceau in einer Abstimmung, in der 418 Abgeordnete für die Regierung, 65 gegen sie stimmten und 41 sich der Stimme enthielten, das Vertrauensvotum erhalten.41 Bei der Aufhebung der Immunität, die Caillaux selbst verlangte und die mit 418 gegen 2 Stimmen beschlossen wurde, gab es schon 140 Stimmenthaltungen,42 aber das Kabinett in der Immunitätsfrage zu desavouieren, konnte der Mehrheit nicht in den Sinn kommen.

      Der Mann Caillaux, wie ihn das dem Senat unterbreitete Belastungsmaterial schilderte, war ein Ausbund der Untugend: in persönlichen Beziehungen mehr als unvorsichtig, in politischen Bindungen von Hass und Ressentiment aus der bösen Zeit des Calmette-Dramas vom Sommer 1914 getrieben, in der Kritik an der Regierungspolitik von Arroganz und Hochmut erfüllt, ein Mensch ohne Wärme, dem kein Mitgefühl zukommt.

      Unzweifelhaft gab es genug Beweise dafür, dass Caillaux weder an den Sieg geglaubt noch je die Absicht gehabt hatte, der Armee dazu zu verhelfen, das Vertrauen des Volkes zu behalten. Dafür, dass er sich das der Regierung vorbehaltene Recht, die Kriegspolitik zu bestimmen, angemaßt habe, gab es wenig Anhaltspunkte. Gewiss hatte ihn die deutsche Propaganda unentwegt als den wahren Staatsmann und den einzigen Franzosen mit politischem Verständnis hingestellt; aber das war psychologische Kriegführung und konnte dem ohne sein Zutun auserkorenen Objekt, dem Opfer, schwerlich zur Last gelegt werden. Und Beistand für den Feind? Das war eine komplizierte, problemreiche und problematische Konstruktion.

      Man unterstelle, die Regierung und die Anklagebehörde hätten mit der Behauptung recht gehabt, dass ein Kompromissfrieden notwendigerweise zur Vorherrschaft Deutschlands hätte führen müssen. Hätte das geheißen, dass die Befürwortung eines solchen Friedens mit Hilfe, Unterstützung und Zuspruch für den Feind gleichbedeutend gewesen sei? Kam es nicht im Gegensatz zur Meinung des Anklägers entscheidend auf den Nachweis eines schuldhaften Vorsatzes an, auf den Nachweis, dass der Angeklagte, und sei es auch nur zögernd, zum willentlichen Entschluss gekommen sei, die deutsche Sache zu fördern, und dass er darüber im klaren gewesen sei, dass er sie förderte? Wurde da nicht etwas erschlichen? Lag der Anklage nicht lediglich der Umstand zugrunde, dass das, was den Deutschen hätte zuträglich sein können, zufällig mit dem zusammenfiel, was der Angeklagte im Interesse eines dauerhaften Friedens für zweckdienlich gehalten hatte?

      Die Argumentation der Anklage vernachlässigte eine elementare Tatsache: Die Bemühungen und Anstrengungen entgegengesetzter Kräfte können mitunter parallel verlaufen, ohne dass diese Kräfte von denselben Beweggründen ausgingen und dieselben Ziele verfolgten. Von der Verteidigung wurde diese Schwäche der Anklage energisch ausgeschlachtet. Marius Moutet, bewährter Kenner des parlamentarischen Getriebes, und Vincent de Moro-Giafferri, der verdiente Künstler des forensischen Gefechts, nahmen Stück für Stück das Beweismaterial auseinander.