Aus lauter Zorn. Valentine Imhof. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Valentine Imhof
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948392079
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als sich die Gebäude abzeichnen, die den Bahnhofsplatz überragen. Bald muss sie aufstehen und zur Ausstiegstür gehen. Sie setzt die Ellbogen ein und stürzt nach draußen. Davon hängt ihr Leben ab.

      Ein neuer Schlag eisiger Luft. Es friert an diesem Abend. Nicht der Moment, hier hängen zu bleiben. Obdachlose krepieren auf den Bänken. Und wenn es nicht die Kälte ist, die sie umbringt, sind es die Arschlöcher, die Spaß daran haben, ihnen Rohrreinigungsmittel in Gesicht, Mund und Ohren zu gießen. Das hat sie letzte Woche in den Nachrichten gehört. Genau hier ist das passiert, ein paar Schritte weiter. Was für eine Scheißwelt!

      In der grell erleuchteten Bahnhofshalle haben das Relay H und die überfüllte Brasserie noch geöffnet. Angespannt wirft sie einen Blick auf die große Uhr in der Mitte. Wie vor der Verkündung eines Urteils.

      21.37 Uhr! Sie kann den 21.41er noch erreichen. Doch ihre Erleichterung hält nicht lange an. Der Bus hat sie zwar ein wenig aufgemöbelt, aber sie fühlt sich nicht in der Lage, gegen die Zeit zu rennen. Nicht heute Abend. Doch der Zug, den sie nicht verpassen darf, wird als abfahrbereit angekündigt. Auf Gleis 7. Jetzt ist nicht die Zeit, auf der Strecke zu bleiben. Sie hat das Gefühl, alles zu geben und trotzdem nicht voranzukommen. Die Treppe nach unten ist endlos, und die untere Ebene wird immer größer. Wie in den Alpträumen. Nach einem verzweifelten Rennen springt sie schließlich in den erstbesten Waggon, der sich anbietet, und landet außer Atem, am Ende ihrer Kräfte, mit rasendem Herzen und zitternden Beinen auf einem der Klappsitze. Das Abfahrtssignal ertönt. Hinter ihr schließen sich die Türen.

      Verdammt! She made it! Sie ist ihnen entkommen! Ein weiteres Mal! Mit Parkinson’scher Hand fischt sie in den Tiefen ihrer Tasche nach der Fahrkarte. Und nach ihrem MP3-Player. Sie muss jetzt dringend Musik hören. Um sich zu beruhigen, um sich zu erholen. »Water« von PJ Harvey, das während der dreißig Minuten Fahrzeit in einer Endlosschleife läuft.

      Sie lässt sich verschlingen, aufsaugen von der hypnotischen und eigenwilligen Basslinie, einhüllen von der eindringlichen Stimme, die fleht, wimmert, beruhigt und erzählt. Die Hybris von Ikarus. Der unausweichliche Absturz. Die Rettung im Wasser. Die Anziehung der Tiefe. Sich in den Abgrund stürzen und jede Phase genießen können, die einen dem Grund näher bringt …

      Als sie aussteigt, ist sie erholt und sogar gestärkt. Gewaschen, erfrischt, wie neu. Ihr Gang ist wieder geschmeidig geworden. Sie schwebt auf dem Asphalt wie auf Luftkissen.

      Die kleinen Fenster an der Fassade des Donjon sind mit Feuchtigkeit bedeckt. Bruchstücke von lebhaften Gesprächen erreichen sie. Es ist voll heute Abend. Jeff Beck elektrisiert die Jukebox. Es ist ein bisschen so, als ob sie nach einer langen Reise nach Hause käme. Die Rückkehr der verlorenen Tochter zu den Ihren. Sie schluckt ihren Hass hinunter, atmet tief durch und zwingt sich zu lächeln. Die Nacht ist jung. Sie hat heute einen Mann getötet. Den dritten. Doch es ist ihnen gelungen, sie wiederzufinden.

       Kapitel 4

      chaquematinquandlesoleilselevepourlesautresenrepandant lajoieetlachaleursalutairesdanslanaturetandisquaucundemes traitsnebougeenregardantfixementlespacepleindetenebre saccroupiverslefonddemacaverneaimeedansundesespoir quimenivrecommelevinjemeurtrisdemespuissantesmains mapoitrineenlambeauxpourtantjesensquejenesuispasattein tdelaragepourtantjesensquejenesuispasleseulquisouffre pourtantjesensquejeresirecommeuncondamnequiessaieses musclesenreflchissantsurleursortetquivabientotmonterale chafauddeboutsurmonlitdepaillelesyeuxfermesjetournelen tementmoncoldedroiteagauchedegaucheadroitependantdes heuresentieresjenetombepasraidemort

       4. November 2006, Metz, Le Donjon

      Die Tür öffnet sich, und Alex erscheint. Ihr Auftritt trifft die Bar wie ein elektrischer Schlag.

      Die meisten Leute, die an der Theke hocken, richten sich auf oder versuchen es zumindest. Anton bildet keine Ausnahme. Er hebt den Kopf, reckt die Schultern und zieht den Bauch ein. Ein Reflex. Er spannt die Bauchmuskeln – oder zumindest sein »Abdal«-Shirt – an, die Sascha liebevoll ihr »Schokoruhekissen« nennt.

      Sie hat schon mal besser ausgesehen. Er entdeckt sogar einen fiesen Zug in ihrem Gesicht. Sie wirft einen schnellen Blick über die Tische und dann auf die Theke. Er versucht, ihren Blick einzufangen. Magisches Denken, Telepathie: Wenn er sie intensiv genug fixiert, wird sie den Kopf in seine Richtung drehen und zu ihm kommen. Er hält sich für Mesmer. Doch sein Magnetismus funktioniert nicht, er hat an diesem Abend nicht das Fluidum … Ihr Blick schweift über ihn hinweg, ohne ihn zu beachten, wie über alle anderen. Sie befreit ihr Haar von der Kapuze und steigt auf einen Hocker.

      Fred wirft Anton aus der Ferne einen Blick zu, der bedeutet »Ich hab’s dir ja gesagt!«, und beugt sich auf den Zehenspitzen über die Theke, damit Alex ihm ein Küsschen geben kann. Er serviert ihr einen Picon Bière, stellt ihr Notebook vor sie hin und verschwindet in der Küche.

      Sie spricht mit ihren Nachbarn, dann mit den Typen, die ihre Dartpartie unterbrochen haben, um sie zu begrüßen, gibt eine Runde aus, stößt mit ihnen an und macht sich hungrig an einen Teller mit dampfenden Nudeln, den Fred ihr gebracht hat. Noch immer kein Blick für Anton.

      Er fühlt sich unsichtbar, vergessen, leer und versackt wieder in seinem Bushmills. Man kann nichts erzwingen, das weiß er, nichts beschleunigen, nichts auslösen … Sie würden sich an diesem Abend schon noch begegnen.

      Dann erklingt Alex’ Stimme, ein wenig rau, erkennbar unter allen anderen, leicht verführerisch.

      »Hallo Leute! Will mich einer im Billard besiegen?«

      Ein Dutzend Typen geht in Habachtstellung. Bereit für das Erschießungskommando, lösen sie ein Ticket für ihre eigene Hinrichtung. Und einige werden nach mehr verlangen. Für das Vergnügen, sie spielen zu sehen, so konzentriert, so zielgerichtet und vertieft, in der Lage, unmögliche Stöße über mehrere Banden mit unglaublichen Effets anzukündigen, die immer von Erfolg gekrönt sind. Ein Depp, der glaubt, sie in die Schranken weisen zu müssen, pflanzt sich vor ihr auf und wirft in die Runde:

      »Ich mach dich fertig, wo du willst und wann du willst! Und nicht nur beim Billard …«

      Anton, plötzlich wieder belebt, wäre zwar gern aufgesprungen, um ihm seine Faust in die Fresse zu schlagen, aber er weiß, dass der Typ schnell mit eingeklemmtem Schwanz von der Bildfläche verwinden wird, nachdem sie ihn abgezockt hat. Kriegsbeute.

      Die dämliche Bemerkung dieses Irren, der in seiner Kneipenmännlichkeit vernagelt ist, scheint sie zu amüsieren. Sie zwinkert ihm verschwörerisch zu und lädt ihn mit einem vernichtenden Blick ein, sie zum grünen Tisch zu begleiten. Anton weiß, dass sie ihn auseinandernehmen wird, und beschränkt sich daher darauf, das Schauspiel zu genießen.

      Er wird nicht müde zu sehen, wie sie sich am Tisch bewegt, ohne sich um ihre Gegner zu kümmern. No quarter asked, none given! Sie ist gnadenlos.

      Im Allgemeinen lässt sie den Typen das Dreieck aufsprengen und gibt ihm somit die Chance, einen Vorteil zu erringen. Und wenn, unglücklicherweise für ihn, sein erster Stoß schlecht ausgeht und alle Kugeln auf dem Tisch bleiben, kommt er nicht mehr ins Spiel.

      Cut-throat. Mindestens zwei Banden. Sie räumt den Tisch auf, indem sie mit der Spitze des Queues die Bahn der Kugel und das anvisierte Loch beschreibt. Die Ganzen und dann die Halben, in der aufsteigenden Zahl der Nummern, die eine nach der anderen verschwinden, wie sie es vorgesehen hat. Die 8, aufgehoben bis zum Schluss, bekommt in der Regel eine Sonderbehandlung, noch unglaublicher als die vorherigen, einen Mordsstoß, der die Typen erstarren lässt.

      Sie ist göttlich. Derartig ins Spiel vertieft, dass sie nicht die Aufmerksamkeit bemerkt, deren Gegenstand sie ist. Eine Partie folgt auf die andere, der Verlierer zahlt seine Schuld, und das kann den ganzen Abend dauern.

      Anton hat sich schon oft gefragt, wie sie mit derselben chirurgischen Präzision weiterspielen und dabei noch trinken kann. Auch das gehört zu ihren Geheimnissen …

      Schließlich beendet sie das