In ihren Taschen tastet sie nach einer Schachtel Zigaretten. Noch zwei Kippen, völlig zerknittert. Hastig zieht sie eine heraus und rollt sie zwischen ihren schmerzenden Fingern. Der erste Zug schießt ihr direkt in den Kopf. Erneut Übelkeit. Sie schließt die Augen, möchte sich liebend gern hier hinlegen, direkt auf den Asphalt. Der warme Schlamm des Sumpfes, den sie am liebsten nie verlassen hätte, kommt ihr in den Sinn. Sie wünscht, sie könnte sich darin einrollen, einkuscheln, sich hineinversenken. Um nichts mehr zu spüren und alles vergessen zu können. Verschwinden, ein für alle Mal. Damit die Jagd aufhört. Vorhang. Endlich.
Ein wütendes Hupen lässt sie wieder die Augen öffnen und reißt sie brutal aus ihrem Traum vom Nichts. Sie ist nur noch angewidert. Angewidert von dem, was sie ihr angetan und was sie sie zu tun gezwungen haben.
Ein flüchtiger Gedanke an das arme Mädchen, das morgen früh Zimmer 107 putzen muss und den priapischen Satyr finden wird, ausgestreckt auf den schmutzigen Laken. Ein überarbeiteter Manet. Olympia. In männlicher Version. In Trash-Version. Sie hätte ihn zudecken sollen, bevor sie ging. Oder ihn auf den Bauch drehen. Egal. Zu spät. Es kommt nicht in Frage, dorthin zurückzukehren. Sie muss den Parkplatz des Hotels verlassen, diesem beschissenen Tag den Rücken zuwenden und nach Hause gehen.
Nach der ungesunden und fiebrigen Hitze im Zimmer lähmt die Kälte sie, lässt sie die Zähne zusammenbeißen. Nur ihre trockenen Lippen öffnen sich, um an der glühenden Kippe zu ziehen.
Sie hat keine Ahnung, wie spät es ist. Wie lange sie wohl im Koma gelegen hat? Keine Uhr, kein Handy. Dieser Tag scheint sich zu strecken. Oder sich zusammenzuziehen. Sie ist sich über nichts mehr sicher.
Sie sieht sich wieder in ihrer Bude heute Morgen, ihren Kaffeebecher und die Beschwörungsmusik von Joy Division. Und nun ist es dunkle Nacht.
Anfang November. Es könnte sechs oder sieben Uhr am Abend sein, und all diese Leute im Auto kommen vom Einkaufen oder von einem Kinobesuch am Nachmittag zurück. Oder es ist bereits neun oder zehn Uhr, und die Leute brechen auf in ein Restaurant oder zu einem Kneipenbummel. Und wenn das der Fall ist, sind die Chancen, einen Zug nach Hause zu erwischen, nicht sehr groß …
Sie muss sich in Bewegung setzen. In dieser Kälte, die ihre Füße steif werden lässt und zum Angriff auf die Knöchel übergeht, wird sie es nicht lange aushalten. Sich konzentrieren, in die Stadt hinuntergehen, am Bahnhof ankommen, bevor die Kumpel des Toten auftauchen.
Ein Blick nach rechts zeigt ihr eine erleuchtete Bushaltestelle. Ein Leuchtfeuer in diesem Ozean aus Beton. Sie tritt die Kippe aus, zieht den Reißverschluss ihrer Sweatjacke hoch, steckt den Kopf zwischen die Schultern, vergräbt die schmerzenden Fäuste in den engen Taschen ihrer Jeans. Los geht’s.
Einhundertfünfzig, zweihundert Meter bis zu der Glashütte. Eine Odyssee. Wie ein betrunkener Seemann, der mit den Windböen auf einem überschwemmten Pier einen Pas de deux tanzt, taumelt sie vorwärts, indem sie von Schräglage zu Schräglage einen Schritt nach dem anderen macht. Die Zunge zwischen die Lippen geklemmt, um aufmerksam zu bleiben, bemüht sie sich, entlang der geraden Linie des Rinnsteins Kurs zu halten. Ein kleiner Alter, der seinen Hund ausführt, macht einen großen Bogen, um ihr aus dem Weg zu gehen, und erwürgt fast seinen kleinen Liebling, als er brutal an der Leine zieht … Sie muss furchterregend sein. Das ist gar nicht so schlecht.
Sie geht auf das Leuchtfeuer zu, den einzigen Orientierungspunkt in der Dunkelheit. Koste es, was es wolle. Instinktiv. Wie eine Motte, die vom Licht angezogen wird. Der Reiz der Glühbirne. Egal. Selbst wenn sie im Schatten bleiben muss, um sich zu verbergen. Denn sie sind da, nicht weit weg. Sie sind ihretwegen gekommen.
Endlich das Licht. Und ein Fahrplan, den sie nur schlecht lesen kann. Ihr verschwommener Blick wird vom Neonlicht geblendet, ihre Pupillen sind nicht in der Lage, sich auf einen Punkt zu konzentrieren. Samstagabend. Alle halbe Stunde ein Bus. Hoffentlich hat sie nicht falsch geguckt. Sie zieht sich in der eisigen Luft zusammen, die sie allmählich erstarren lässt. Die Kälte umklammert nun ihre Kniescheiben.
Sie stampft mit den Füßen, um die Durchblutung ihrer Beine zu aktivieren, bläst kleine Wolken aus warmem Nebel in die Hände. Dann zählt sie im Kopf bis sechzig, immer wieder, um die Minuten zu messen und einen Anschein von Kontrolle über die Zeit zu bekommen, die ihr den Tag über entglitten ist und ihr nach und nach die Möglichkeit nimmt, den letzten Zug zu erreichen, der sie nach Hause bringen soll.
Drei junge Typen kommen zu ihr in die gläserne Schutzhütte. Mustern sie einen Moment, beratschlagen, drängen sich zusammen und bauen sich vor ihr auf. Rücken ihr auf die Pelle.
»He, du Tussi! Hat dir keiner gesagt, dass es nicht schlau ist, sich nachts ganz allein in dieser Gegend rumzutreiben?«
Ihnen eine hammerharte Antwort geben, ihnen ein Ding verpassen, das ihre Schnäbel zunagelt und sie alle drei pulverisiert. Pffft! Das würde sie gern tun. Aber reden ist im Moment nicht drin.
Also hebt sie den verstörten Blick und ihr aufgedunsenes, nahezu verwüstetes Gesicht. Und das genügt, ihnen ihr blödes Grinsen und ihr zweitklassiges Machogefasel zurück ins Maul zu stopfen. Sicher werden sie sich bald fragen, wer mehr in Gefahr ist. Sie sieht sie weiter an, ihr schwerer Blick wandert von einem zum anderen. Auch streicht sie über ihre Fäuste, deren aufgeschlagene Gelenke sie sehen, und strafft die Wangen, indem sie die Zähne zusammenbeißt. Bis sie aufgeben, in die andere Ecke der Haltestelle abziehen und anfangen, über Musik zu sprechen, indem sie die Ohrstöpsel eines Mini-Headsets austauschen.
Sicherlich wohnen sie in der Gegend und kennen zwangsläufig die Abfahrtszeiten. Das beruhigt sie. Der Bus müsste bald kommen. Sie setzt sich und beginnt wieder zu zählen, von eins bis sechzig, so wie man einen Rosenkranz herunterbetet, mechanisch, wie eine Litanei.
Ängstlich schaut sie zum oberen Ende der Straße, darauf gefasst, ein Auto auftauchen zu sehen, das vor ihr anhält, aus dem ein Fiesling springt und sie zwingt einzusteigen, ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. Doch es ist der Bus, den sie an der Kreuzung auftauchen sieht. Hell erleuchtet kommt er den Hügel herunter, und ihr Herz beginnt ein wenig schneller zu schlagen.
Als er anhält, lässt sie die drei Typen vorgehen, die dem Fahrer ihre Dauerkarten zeigen und sich nach ganz hinten verziehen. Mit tauben Fingern zählt sie fieberhaft ihr Geld, kauft ein Ticket und stellt eine kurze und höfliche Frage. Ja, er hält am Bahnhof. Neuer Aufruhr im Inneren. Kleine Blasen der Erleichterung, die überall in ihrem Schädel knistern.
Sie setzt sich nach vorn, direkt hinter die Scheibe, die sie vom Fahrer trennt, schließt die Augen, um dem grellen Licht zu entgehen, und versucht, die sich anbahnende Unterzuckerung einzudämmen. Der Bus ist gut geheizt, und die sanfte, pulsierende Wärme, die aus einem Gitter unter ihren Füßen aufsteigt, hilft ihr, sich zu entspannen.
In den Tiefen ihrer Tasche findet sie einen alten Kaugummi. Das Alupapier ist zerrissen, teilweise verklebt, und Tabakkrümel kleben an dem grünen Streifen. Schmerzhaft beleben sich ihre Speicheldrüsen beim Kontakt mit der mentholhaltigen Süße. Die Kiefer sind im Kaumodus, aber noch nicht bereit zu kauen. Nach und nach wird ihr Körper weicher.
Eingelullt vom Geräusch des Motors, dem sanften Schaukeln, den undeutlichen, aber beruhigenden Gesprächsfetzen, die sie erreichen, könnte sie beinahe einschlafen … Diskret massiert sie ihre Fingergelenke, die langsam anschwellen und blau werden.
Bei jeder Haltestelle füllt sich der Bus etwas mehr mit jungen Leuten, die die Schlafstädte verlassen, um sich in der Stadt auszutoben. Sie hat nun das flüchtige Gefühl, wieder zu dieser kosmopolitischen Gruppe zu gehören, die sich darauf freut, an einem Samstagabend auf die Piste zu gehen. Für ein paar Stunden der Unbeschwertheit würde sie alles geben, für eine Ruhepause, dafür, dass sie aufhören, sie zu quälen, dass sie nicht ständig auf der Hut sein muss. Doch all dies