Aus lauter Zorn. Valentine Imhof. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Valentine Imhof
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948392079
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Technicolor auf einem fliesengroßen Stück Zelluloid. Darauf erkennt sie eine kleine Mücke mit Brille, die herumfliegt und knattert wie ein altes Moped. Sie muss schlecht sehen oder abgelenkt sein, denn sie hat nicht die Heroine bemerkt, die verzierte Nachahmung einer Riesenskulptur von Niki de Saint Phalle, und steckt aus Versehen ihren kleinen Saugrüssel in einen der beiden Euter! Zwei, drei Sterne, die über ihrem Kopf umherwandern, weil sie ziemlich angeschlagen ist, und dann dringt ein beunruhigendes Pffft in den Soundtrack ein. Und das aufgeblasene Leopardenmädchen beginnt mit einem langen Zischen, die Luft zu verlieren. Und damit setzt ein Festival ein. Zuerst wirbelt sie sehr schnell und in alle Richtungen zwischen den vier Ecken des Bildes umher. Sie verbindet Längen, Diagonalen und Figuren auf völlig unvorhersehbare Weise und springt willkürlich in alle Dimensionen ihres Glaswürfels. Dann wird ihr verrückter Sprint langsamer, und bald ist sie nur noch eine leere Hülle, die langsam, wie in Zeitlupe, herunterfällt wie ein abgestorbenes Blatt oder eine Feder, bis ihre Haut, die jetzt im Body schwebt, schlaff und flach auf dem Teppich landet. The End.

      Heftige Schläge an die Schaufensterscheibe reißen Alex aus ihrem Cartoon heraus, bringen sie auf ihre Seite des Bürgersteigs zurück und lassen vor ihren Augen wieder das Mädchen in all seiner vollen Üppigkeit erscheinen. Die Frau wirft ihr einen finsteren Blick zu, der Mund formuliert Beleidigungen, die sie nicht versteht, unterstrichen von einem Stinkefinger, der »Verpiss dich!« bedeutet. Alex erwidert ihren Gruß mit dem Mittelfinger, sogar mit beiden. Auf jeden Fall muss sie gehen.

      Der Regen ist stärker geworden und sickert langsam in ihre Sweatjacke. Sie setzt ihren Weg vom Zentrum zum Stadtrand fort.

      Kurs Babylon, der alternative Club in einem Außenbezirk, eine Lagerhalle, die fast unverändert gelassen wurde und in der man am Wochenende Punkgruppen, Hardcore, Thrash Metal oder Industrial sehen kann, oft gut und vor allem sehr laut. Die Eingänge bewacht ein rasierter Koloss, ganz in Leder, Typ Biker, mit einem zu einem Zopf geflochtenen Bart, der bis zum Bauch hinunterhängt. Von Weitem beeindruckend, doch recht freundlich, wenn man sich nähert. Sie bekommt sogar ein zum Teil zahnloses Lächeln.

      Es ist noch früh, und die große Halle wirkt fast verlassen. Gedämpftes Licht, dicke Ventilatoren an der Decke zwischen einem Gewirr von Stahlrohren, Betonfußboden. Zwei Theken, die sich auf den Längsseiten gegenüberliegen. Die Bühne, sehr hoch, nimmt den ganzen Hintergrund ein und scheint auf einer Wand von Lautsprechern zu ruhen, die sich über die volle Breite des Raums erstreckt. Heute Abend auf dem Programm eine Industrial-Trash-Punk-Band aus Lothringen. Das wird bestimmt der Hammer, und genau deshalb ist Alex da.

      Im Moment dröhnt Psalm 69 von Ministry aus den Lautsprechern, und das tut ihr so richtig gut. Sie geht zur Theke auf der linken Seite, die von blauen Neonleuchten hervorgehoben wird, und bestellt ein Kasteel Donker. Allmählich hat sie ganz schön einen im Kasten. Die 11 % ihres Bieres nähren weiter das Feuer, das sie schon am frühen Nachmittag gelegt hat. Und die Musik von Al Jourgensen lässt eine kochende, mit Schwermetallen aufgeladene Flüssigkeit durch ihren Körper strömen.

      Nach und nach füllt sich der Saal. Ein zweites Bier. Dann ein drittes mit Schuss. Und Pretty Hate Machine von NIN, während sie all dies in sich reinschüttet. Sie liebt diesen Ort definitiv. »Head Like a Hole«, »Terrible Lie«, »Down in It«. Diese Stücke versetzen sie um Jahre zurück, in ihr früheres Leben, das jetzt so fern ist, dass es anscheinend von einer anderen gelebt wurde … Sie fragt sich sogar, ob es nicht völlig erfunden wurde …

      Die Musik wird in der Mitte von »Sin« unterbrochen. Die Halle ist schnell in Dunkelheit getaucht, und das Bild eines Turmes, eines mit rostigen Geländern versehenen Wachtturms, zeichnet sich ab, wird auf einen riesigen Bildschirm projiziert, der die ganze Wand hinter der Bühne bedeckt. Sie verlässt die Theke und nähert sich dem Schlachtfeld.

      Drei Typen mit Sturmhauben und Bauhelmen auf dem Kopf erscheinen. Der Gitarrist und der Bassist schließen ihre Instrumente an und stellen die Höhe ihrer Mikros ein, während der Dritte sich hinter einer Reihe von Tastaturen und Samplern niederlässt, die ihn fast vollständig verbergen. Der Saal hält den Atem an. Rote und orangefarbene Scheinwerfer beginnen das Halbdunkel zu durchdringen.

      »Wie ihr wisst, nennen wir uns Muckrackers, und was ihr da hinten seht, ist ein Hochofen. UND WIR HABEN EINEN IM KOPF!!!!!«

      Der Gitarrist, der das geschrien hat, nimmt nun ein Riff mit drei Beats und Loops in Angriff, das durch und durch geht. Der Titel des Stücks, »Konkassor«, blinkt auf dem Bildschirm, und das Erlebnis wird total.

      Ein langer Rückkopplungseffekt verfeinert sich zu einem Bohrgeräusch, das an den Nervenwurzeln zerrt, dann explodiert das tonale Chaos, und Eisenschmelze strömt in großen Blasen von der Bühne, setzt die Lautsprecher in Flammen, fließt auf die Tanzfläche, füllt den Saal wie eine Flutwelle und schleudert Myriaden von glühenden Funken in den Raum, eine brennende Wolke, die beim Aufprall alles verzehrt. Das Geschrei des Sängers vermischt sich mit Samples aus alten Radio- oder Fernsehnachrichten, in denen Streiks in den Minen und Stahlwerken Lothringens kommentiert werden, während Bilder in einer schnellen, ruckartigen, stroboskopischen Montage vorbeiziehen, die wahllos Arbeiter bei der Arbeit, den Abbruch von Industrieanlagen, Explosionen, Bombardierungen, Trümmerhaufen, von der Anstrengung zerfurchte Gesichter und von Menschenfressermaschinen versklavte Körper miteinander verbinden.

      Nach und nach kommt Alex in Einklang mit diesen Visionen eines heillosen Chaos, mit diesen ohrenbetäubenden Dampfhämmern, diesen brennenden Schwefel- und Phosphorstrahlen. Sie schließt die Augen und stößt einen heiseren Schrei aus, ein wildes Heulen, das aus ihrem Bauch aufsteigt und jede Zelle ihres Körpers vibrieren lässt.

      Der Weltuntergang hat begonnen. Das ist der Anfang von Ragnarök! Die Zeit der furchtbaren Stürme und der Wölfe, die das All verschlingen. Die letzte große Schlacht vor der Vernichtung. Sie muss kurz lächeln, als sie die singende Stimme ihrer Großmutter Hjördis hört, die ihr die großen Mythen aus ihrer Heimat Norwegen erzählt. Der Lärm schlägt sie in seinen Bann, sie kann darin das Geschrei der Krieger vernehmen, die vor dem letzten Angriff mit ihren Äxten auf die Schilde schlagen. Und der Deich, der all ihren Hass eindämmt, diese schwarze Galle, die sie seit Monaten ständig ausscheidet, zerbröckelt, bekommt Risse und bricht schließlich zusammen. Loki, der Lügengott, der Verräter, der vor Wut Schäumende, begleitet sie. Sie verlässt sich auf ihn, streicht sich über den Hinterkopf, auf dem die vier Runen seines Namens tätowiert sind, und stürzt sich wutentbrannt in den Kampf.

      Kopfüber wirft sie sich in die barbarische Schlägerei, die den ganzen Platz einnimmt. Das kompakte Handgemenge ist eine monströse mythologische Kreatur, deren vielfältige Körper sich gegenseitig zerfleischen, deren unförmige Köpfe ihr Gebrüll ausstoßen, deren Pfoten auf den Boden schlagen, sich anrempeln und umstoßen. Als ob man unter dem Fleischklopfer gelandet wäre. Fußtritte, Ellbogenstöße, Fausthiebe, Schulter- und Kopfstöße. Alex teilt blind aus und steckt ein, betäubt von Lärm, Erregung, Joints und Alkohol, gedopt mit Adrenalin und Verzweiflung, geschützt von ihrem zerstörerischen Gott, unverwundbar in diesem apokalyptischen Kampf. Die Zusammenstöße und Reibereien erzeugen die dunkle Energie, die die Raserei der Horde nährt. Der makabre und brutale Tanz reißt alle mit in eine ständige Bewegung. Dieser unbändige, epileptische Sabbat wird bis zum Ende der Zeiten dauern.

      Ein harter Schlag mitten ins Gesicht unterbricht abrupt ihren Stammestanz.

      Alles bleibt stehen. Alex hat den Sound verloren. Das Bild auch. Sie bleibt einen Moment in der Luft hängen, aufrecht gehalten von der Masse der anderen sich bewegenden Körper, dann fällt sie auf den Boden des Mörsers, und das Stampfen geht weiter. Rückkehr des Lärms und der Wut. Sie kauert sich zusammen, benommen. Schluckt warmes Blut und versteht, dass alles zu Ende gehen kann. Hier und jetzt. Endlich.

      Dann entspannt sich ihr ganzer Körper und überlässt sich dem Stampfen. Sie wird zu einer schlaffen Masse, die keinen Widerstand mehr leistet. Ein formloses Gelee, in das die Schläge eindringen. Sie macht sich in die Hose. Gibt nach und lässt alles über sich ergehen. Getrampelt, zertreten, am Boden, erledigt. Brei, Matsch, eine große ekelhafte Pfütze. Man braucht das Ganze nur noch aufzuwischen, in einen Eimer auszuwringen und in die Gosse oder ins Klo zu schütten. Sie wird verschwinden. Spurlos. Die werden sie nie wiederfinden.