Genau genommen ist die Untersuchung an einem toten Punkt angekommen.
Es hat keinen Zeugen gegeben, als Richard McGowan, einundvierzig Jahre alt, am Abend des Up-Helly-Aa-Festivals mit siebzehn Messerstichen in den Unterleib niedergestochen wurde. Der Ort war menschenleer und die Straßenbeleuchtung erloschen. Alle Bewohner hatten sich auf der Esplanade King George V zur Verbrennung des Drakkar versammelt. Und keiner hat gesehen, was in der kleinen Straße von Lerwick passiert ist, in der ein Touristenpaar am 31. Januar um 23.30 Uhr bei einem Spaziergang vor der Rückkehr ins Hotel die Leiche entdeckte.
Der einzige an der Leiche gefundene Hinweis ist ein langes schwarzes Haar, dessen DNA-Analyse nur ergeben hat, dass es von einer Frau stammt. Doch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnte nichts Greifbares von diesem Haar abgeleitet werden, das der Mann im Laufe des Abends überall bekommen haben konnte, vor allem wenn er sich unter die Menge gemischt hatte, die das Fest miterleben wollte …
Das Opfer, ein Shetlander, der auf der Insel Bressay wohnte, hatte am Abend seines Todes viel Alkohol im Blut. Kelly kann sich gut vorstellen, dass das Trinken hier ein verbreitetes Freizeitvergnügen ist, weil man sich auf dieser Inselgruppe zu Tode langweilen muss, vor allem im Winter … Der Mann hat keine Vorgeschichte, keine bekannten Freunde, und Raub war kein Motiv, denn man hat seine Brieftasche samt Papieren und allem Geld gefunden, eine hübsche Summe.
Das sieht aus wie ein zufälliger Überfall, der von einem Gespenst begangen wurde. Und wenn die Schotten neben dem Haggis noch eine Spezialität haben, dann sind es Gespenster!
Doch Kelly hat die zehnjährige Ausbildung nicht gemacht, um zu einem verdammten Ghostbuster zu werden oder um sich von einer Horde von Hinterwäldlern aus dem Norden, die halb Bullen und halb Wikinger sind, herumschubsen zu lassen.
Also wird sie sich ihre dämlichen Listen, die sich seit Tagen weigern, mit ihr zu sprechen, zum x-ten Mal vornehmen. Und bei all den Touristen, die kommen und gehen, vor allem in den Wochen vor und nach dem Fest, ist das kein Vergnügen. Als Nick Cave beginnt, mit seiner ernsten und dunklen Stimme »Let Love In« anzustimmen, begleitet sie ihn. Und wie bei ihm gibt es wirklich Tage, an denen sie das Gefühl hat, dass man sie dazu verdammt, lebenslänglich Konfetti vom Boden eines Betonlochs aufzukehren …
Kapitel 8
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11. November 2006, Metz, Le Donjon
»Ist das nicht irre? Man könnte meinen, die Haare einer Toten …«
Fred hält ihm die Keksdose unter die Nase, in der er Alex’ Zopf aufbewahrt, und Anton ist kurz davor zusammenzubrechen. Schwarze Schmetterlinge flattern vor seinen Augen. Freds Satz hallt in seinem Kopf wider, und beim Anblick von Saschas zu einer Spirale aufgerolltem Haar auf dem Boden der runden Dose wird ihm ganz schlecht.
Es ist wahr, dass sie tot sein könnte und er nichts davon wüsste. Keiner würde auf die Idee kommen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, um ihm zu sagen, dass Alex etwas zugestoßen ist. Seiner Sascha, die seit letztem Sonntag von seinem Radar verschwunden ist. Seit sechs Tagen.
Das macht ihn verrückt. Die Sorge frisst ihn auf. Er kann nicht klar denken, sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er dreht durch, im Kopf und in seiner Bude. Schaut alle fünf Minuten in seine Mailbox, und jedes Mal, wenn sie leer ist, wird der Knoten enger, der ihm den Magen abschnürt. Er möchte doch nur ein Zeichen haben. Ein kleines Wort. Wie etwa »Bis bald«, »Mach dir keine Sorgen« oder »Ich komme zurück«. Damit wäre er zufrieden. Sie soll ihm nur sagen, dass es ihr gut geht. Dass sie an ihn denkt in den wenigen Sekunden, die sie braucht, um das zu tippen. Doch ihr hartnäckiges Schweigen und ihre Abwesenheit machen ihn ganz kirre.
Er wünscht, er könnte heulen, bis ihm die Adern platzen, um den Druck zu lindern, er könnte mit Faustschlägen Mauern umhauen, oder er hätte sich für Bodybuilding entschieden und könnte Tonnen von Gusseisen hochwuchten, bis er verblödet. Irgendwas, um das Ohnmachtsgefühl zu vertreiben, das ihn erstickt. Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, wo sie ist. Damit kann er sich nicht abfinden.
Man könnte meinen, die Haare einer Toten.
Fred hat, ohne es zu ahnen, eine echte Katastrophe ausgelöst. Anton, der sowieso schon auf dem höchsten Ast der Angst sitzt, stürzt sich in morbide Gedankengänge hoch zehn.
Bilder der toten Alex und von gewaltsamen Todesfällen gehen ihm durch den Kopf wie eine schreckliche Diashow, wie eine Reihe von Pulp- oder Trash-Aufnahmen, die auf ihn einprasseln, ihn zu Eis erstarren lassen und erdrücken. Sascha erwürgt in einer Gasse, ausgestreckt zwischen zwei Müllcontainern. Sascha in einer Badewanne voller Blut, mit aufgeschnittenen Handgelenken. Sascha von einem Auto über den Haufen gefahren, ihr zertrümmerter Körper in einem nassen Graben. Sascha in einem leeren Krankenhauszimmer, die Nullinie und der Dauerpiepton des Monitors. Sascha zerschmettert in den zusammengepressten Blechen eines gegen einen Baum geknallten Wracks. Sascha zerfetzt auf den Gleisen, nachdem ein Zug vorbeigekommen ist.
Diese letzte Vision treibt ihn zum Kotzen auf die Toilette. Er hat Schluckauf, ist mit den Nerven am Ende. Er klappt den Deckel runter, setzt sich und versucht, sich zu erholen und sich wieder unter Kontrolle zu kriegen.
Wieder denkt er an Samstagabend.
Saschas späte Ankunft, wie kaputt sie aussah, ihre geschwollenen und geschundenen Fingergelenke, als ob sie sich geprügelt hätte. Er hat aber nichts dazu gesagt, weil er nicht als Inquisitor erscheinen wollte. Als er am Sonntag aufwachte, war sie bereits gegangen. Und zwar nicht, um Baguette und warme Croissants fürs Frühstück zu holen. Er hat mit ihr noch nie dieses vertrauliche morgendliche Tête-à-Tête geteilt. Im Allgemeinen zieht sie sich an, wenn sie Liebe gemacht haben, und geht nach Hause. Oder, wenn sie doch einmal bei ihm schläft, verschwindet sie am frühen Morgen, ohne ihn zu wecken, ohne ein Wort zu hinterlassen.
Und später am Tag, als er im Donjon ein Gläschen getrunken hat, sagte Fred ihm, dass sie kurz vorbeigekommen sei, bevor sie in einen Zug sprang. Überstürzter Abgang. Und weg war sie.
Seit Sonntag denkt er immer wieder über das nach, was Fred ihm erzählt hat. Um in all dem einen Sinn zu sehen, um irgendeinen Hinweis aus diesen Informationen zu bekommen, irgendetwas, das es ihm ermöglicht, irgendwo zu suchen, ganz gleich wo. Und noch immer nichts.
Er hört noch einmal, was Fred ihm gesagt hat, als ob es eine Aufzeichnung wäre. Er sieht seine besorgten Augen wieder, seine Aufregung, die Worte, die sich überstürzten und ineinanderflossen, erinnert sich an seine tonlose, angespannte und verknotete Stimme.
»Alex ist heute Morgen vorbeigekommen. In Eile. Sie hatte ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten. Und ich hab ihr gesagt, dass ihr das gut steht, dass es mir gefällt. Sie hat geantwortet, ich solle den Anblick noch schnell genießen, da sie einen kurzen Haarschnitt brauche, auf der Stelle, bevor sie in zwanzig Minuten in den Zug steigt. Du kannst dir vorstellen, dass ich geschockt war. Mir war nicht danach, ihr die Haare abzuschneiden. Aber sie hat nicht nachgegeben, also hab ich die Küchenschere für den Zopf genommen. Und über dem Gummiband abgeschnitten. Hab ihn übrigens aufgehoben, konnte ihn nicht wegwerfen. Ich hab ihn in eine Keksdose gelegt, auf Seidenpapier, falls Alex ihn wiederhaben will, wenn sie zurückkommt. Und dann hat sie mich gebeten, den Rest mit dem Rasierapparat abzuschneiden, mit einem 5-mm-Abstandhalter. Das hat mich wieder geschockt. Ich hab vorgeschlagen, die Länge auf einen Zentimeter einzustellen, aber es war nichts zu machen. Und dann kam die nächste Überraschung. Weißt du, was sie hinten