Anton sieht immer wieder Freds Gesichtsausdruck, seinen besorgten Blick. Er war erregt, weniger gelassen als gewöhnlich. Und so geht es schon die ganze Woche. Das hat zu seiner Angst beigetragen.
Er dreht und wendet den Bierdeckel, auf den die vier kabbalistischen Zeichen gekritzelt sind, zwischen den Fingern. Er hat Stunden damit verbracht, die Zeichen im Netz zu suchen, aber bis jetzt nichts gefunden.
Als Fred ihm von Alex’ Tätowierung erzählte, hat er den Ahnungslosen gespielt. Doch er weiß natürlich, dass Alex tätowiert ist. Und nicht nur ein bisschen. Nicht die Art von Tattoo, die man sich an einem Strand machen lässt, einen Delfin, eine Sonne oder einen Schmetterling, um eine Erinnerung an die Ferien mitzunehmen. Jenes, das Fred freigelegt hat, als er ihren Kopf rasierte, hat er noch nicht gesehen, aber was die anderen betrifft … Er wird nicht müde, sie zu überfliegen, sie zu entziffern und zu verstehen, sobald sie ihm Gelegenheit dazu gibt. Er denkt sogar, dass er sein Leben damit verbringen könnte, so fasziniert ist er von diesen Texten. Und bei diesem Gedanken muss er wieder an ihre allererste Nacht denken. Diese Erinnerung lenkt ihn vorübergehend ab und lindert seine Besorgnis ein wenig.
Schon seit einigen Wochen hatte er Alex aus der Ferne beobachtet. Wie viele Typen in der Bar fragte er sich, ob sie mit jemandem zusammen war, und er hatte sich sogar bei Fred danach erkundigt, der ihm aber nur sagen konnte, dass er sie nie in Begleitung im Donjon gesehen hatte. Im Gegenteil, sie schien alle Typen auf Distanz zu halten. Sodass einige, die eine Abfuhr bekommen hatten oder beim Billard regelmäßig eine Niederlage einsteckten mussten, das Gerücht aufgebracht hatten, sie würde eher auf Frauen stehen.
Sie hatten sich schon öfter an der Theke unterhalten, sie und er, und einige Gemeinsamkeiten entdeckt. Eine ganze Menge sogar. Vor allem literarische und musikalische Bezugspunkte und auch viele Reisen wegen ihrer jeweiligen Jobs, er als Fotograf, sie als Freelancer, ständig auf der Suche nach Artikeln und Reportagen über verschiedene kulturelle Themen, die sie meistens verkaufen konnte. Es gab zwischen ihnen eine Art von unmittelbarer Vertrautheit, und etwas an Alex’ Körpersprache hatte ihn darauf gebracht, dass er Chancen bei ihr hätte.
Und eines Abends, nach einigen Whiskys, hatte er sich ein Herz gefasst. Was konnte schon passieren. Es klang ein wenig aufgesetzt, aber er schlug ihr vor, bei ihm ein letztes Glas zu trinken. Und dann, er konnte es kaum glauben, hatte sie Ja gesagt. Wie selbstverständlich.
Sie fanden sich schnell in seiner Wohnung wieder. Alex sah die CD-Stapel durch und wählte ein Album von Akosh Szelevényi aus. Pannonia. Sie unterhielten sich bei einem Glas weiter über Musik und alles andere, getragen von den exzentrischen, disharmonischen und einlullenden Spiralen des Saxofons. Bis sie aufstand und ihn küsste. Ein fester, drängender und verschlingender Kuss, dessen Intensität und Plötzlichkeit ihn überrascht hatten.
Dann hatte sie sich in aller Ruhe rittlings auf ihn gesetzt und sich ausgezogen, indem sie zunächst den Reißverschluss ihrer Sweatjacke öffnete, unter der sie nichts trug. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, mit einem etwas seltsamen Ausdruck im Blick, gespannt auf seine Reaktionen. Und dieses Mal war sie wohl nicht enttäuscht.
Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, was er sah. Das gedämpfte Licht und vor allem die Regelmäßigkeit der Zeichnung ließen ihn denken, dass sie ein dünnes und enges T-Shirt trug, dessen durchsichtiger Stoff die Rundung ihrer Brüste, den leicht gewölbten Bauch und die Aushöhlung des Bauchnabels sehen ließen. Dann hatte er seine leicht zitternden Hände auf ihre Brust gelegt und war, etwas idiotisch, überrascht, als er die warme und weiche Haut und ihre Brustspitzen, die sich unter seinen Handflächen verhärteten, und all diese kleinen schwarzen Buchstaben berührte, die nicht auf Stoff gedruckt, sondern auf ihren ganzen Oberkörper, ihre Schultern und die Oberarme tätowiert waren.
Sie war in ein fröhliches, kindliches Lachen ausgebrochen, in das eines schelmischen Kindes, erfreut über den Streich, den es gerade gespielt hat, und das hatte ihn aus dem Zustand der Verwirrung oder vielmehr der Erstarrung, in den sie ihn versetzt hatte, herausgerissen. Dann hatte sie ihn erneut stürmisch geküsst, und sie hatten sich in dieser Nacht mit einer brutalen, tierischen Inbrunst, die von ihr ausging, geliebt.
Und diese junge Frau, die ihn schon von Weitem fasziniert und dann interessiert hatte, seit sie miteinander sprechen konnten, ist aus der Nähe noch faszinierender geworden …
Eine vollständig beschriebene Frau, eine Buch-Frau, direkt einem Comic von Bilal entsprungen, bedeckt mit einem dichten Text, in Schönschrift mit winzigen Buchstaben wie in einem mittelalterlichen Manuskript, ohne Punkt, Komma oder Akzent, ein Text, bei dem man weder Anfang noch Ende erkennen kann, der sich in einer ununterbrochenen Linie über den ganzen Oberkörper, den Hintern und die Schenkel schlängelt. Ein Text, der keinen Zugang bietet, auf den er sich seit jetzt vier Monaten konzentriert und für den er einen Schlüssel zu finden hofft, der es ihm ermöglicht, einige von Saschas Geheimnissen zu lüften.
Mehrere Male hat er, als sie schlief, ohne ihr Wissen Fotos von ihrem Körper gemacht. Ein paar Nahaufnahmen, die er vergrößert hat, die er zu entziffern versucht. Und das ist alles, was ihm jetzt von ihr bleibt.
Dieses Mosaik von Fragmenten ihrer Haut, die er in den letzten Nächten immer wieder angeschaut hat, bis ihm die Augen brannten, um eine Antwort auf seine Angst zu bekommen. Er hat diese auf trügerisch glänzendem Papier gedruckten Stücke von Saschas Haut gestreichelt. Trügerisch wie ihre Abwesenheit, trügerisch wie ihr Schweigen, trügerisch wie die Idee, dass sie vielleicht irgendwo gestorben ist und er sie nie wiedersehen kann.
»He, Anton, alles in Ordnung?«
Fred hämmert an die Tür, weil er fürchtet, dass Anton nicht mehr aus dem Klo rauskommt.
»Die Mädchen stehen draußen Schlange, es wäre nicht schlecht, wenn du ihnen Platz machst, sonst muss ich den Wischlappen rausholen!«
Kapitel 9
jetefrapperaisanscolereetsanshainecommeunbouchercom memoiselerocheretjeferaidetapaupierepourabreuvermonsa harahjaillirleseauxdelasouffrancemondesirgonfledespe rancesurtespleurssalesnageracommeunvaisseauquiprendle largeetdansmoncoeurquilssouleronttescherssanglotsreten tirontcommeuntambourquibatlachargenesuisjepasunfau xaccorddansladivinesymphoniegracealavoraceironiequime secoueetquimemordelleestdansmavoixlacriardecesttout monsangcepoisonnoirjesuislesinistremiroiroulamegerese regardejesuislaplaieetlecouteaujesuislesouffletetlajouejesuis lesmembresetlaroueetlavictimeetlebourreaujesuisdemon coeurlevampireundecesgrandsabandonnesaurireeternel condamnesetquinepeuventplussourire
11. November 2006, Gent, Hostel De Draecke
Der Schmerz strahlt aus, ist kaum zu ertragen. Ihr ganzer Körper ist zerschlagen, zerschmettert, verwüstet. Sie ist in Stein verwandelt. Eine leidende Grabfigur, ausgestreckt in ihrem Schlafsack wie in einem Kokon.
Der Sturm von Sonntagabend ist vorbei. Ein heftiger Sturm, nun haben sich die Wogen geglättet, aber ihre blauen Flecken, Wunden und Beulen zeugen davon, dass es sie getroffen hat. Fast ein Schiffbruch.
Seitdem sie Montag vor fünf Tagen wieder zu sich gekommen ist, führt sie ein quasi vegetatives Leben. Sie schläft viel und denkt gern, dass ihr Körper sich im Schlaf erholt und heil wird. Sie stellt sich eine Kohorte von winzig kleinen Arbeitern vor, die zerrissene Taue spleißen, Löcher verstopfen, an den Pumpen stehen, hobeln, kalfatern, den Ballast wieder ins Gleichgewicht bringen. Und sie stellt Tag für Tag die Fortschritte auf der großen Miniwerft fest.
Die beiden ersten Tage verließ sie ihre Koje nur, um pinkeln zu gehen, kurz zu duschen und ihren Körper wiederzubeleben, indem sie ihn erst kaltem, dann lauwarmem und dann heißem Wasser aussetzte.
Mittwoch versuchte sie zum ersten Mal auszugehen und schleppte sich, so gut sie konnte, bis zur Cafeteria des Hostels, um sich dort hinzusetzen, einen abgestandenen Kaffee zu trinken, dann einen zweiten, und auch um sich an dem Automaten zu vergreifen, den sie von seinem Mars-Vorrat befreite. Nur die Riegel mit Schokomousse, keine Nuts und keine Snickers. Nüsse