Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lise Gast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711509463
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gab ihm einen flüchtigen Kuß, dann war sie auf und davon, ein schmaler dunkler Strich in ihrem blauen Trainingsanzug, über dem das helle Haar leuchtete.

      Uli sah ihr nach und lächelte, wurde dann ernst. Langsam und nachdenklich ging er ums Gutshaus herum und dem Stall zu, in dem die Kameraden schliefen. Schimmel würde es schon richtig machen, er war davon überzeugt. Und er fühlte auch, daß er ihr geholfen hatte, einfach durch sein Dasein; aber er fühlte gleichzeitig noch etwas anderes. Wie sie es auch immer anpacken würde mit ihren jungen Händen, das Leben, es würde nie leicht für sie sein, trotz ihrem Mut, ihrer Zuversicht, ihrem tapferen Willen. Sie gehörte nun einmal zu den Menschen, die es sich nirgends leicht machen können.

      IV

      Neuchen war an diesem Morgen sehr gerührt, als sie in die blanke Küche trat, und vollends, als sie Schimmel mit den anderen Mädchen zusammen in der Waschküche vorfand und schließlich aus ihr herausfragte, daß sie überhaupt nicht im Bett gewesen war.

      „Nein, so was! Dafür tust du aber nun keinen Handschlag, solange die Jungen da sind. Wir werden schon fertig werden!“ sagte sie großmütig. Schimmel war etwas beklommen zumute; sie fürchtete, Doktor Gerstenberg werde so bald nicht wieder wegfinden.

      „Aber solange sie noch schlafen, mache ich mit.“ Sie krempelte die Ärmel höher und verkniff sich ein Gähnen. Es war ja gut möglich, daß die müden Wandersleute bis neun oder zehn Uhr nachholten, was sie am Anfang der Nacht versäumt hatten, und bis dahin ist man auf dem Lande schon weit mit der täglichen Arbeit. Sie jedenfalls war gewillt, mitzumachen.

      Großvater kam vorbei und beobachtete ein Weilchen, auf seinen Stock gestützt, Schimmel und das Küchenmädel, wie sie sich bei der Wäsche tummelten. Er hatte so seine Gedanken dabei.

      Er liebte Schimmel. Natürlich liebte er alle seine Enkel, das war klar; aber wo eine Mutter oder ein Vater gleichmäßig und gerecht lieben dürfen, da darf doch ein Großvater – so sagte er sich und lächelte dabei vor sich hin – auch einmal eine besondere Vorliebe haben. Die Kinder brauchten davon nichts zu wissen und wußten es auch nicht, im Gegenteil, sie glaubten, er bevorzuge Johannes. Vielleicht um dessen Namen willen, der auch der seine war, oder aber Claudia sei sein besonderer Liebling, die sich um seine Gunst bemühte. O ihr Dummköpfe! Großväter sind nicht so kritiklos, wie ihr denkt!

      Seine Liebe zu Schimmel aber hatte einen andern Ursprung, sie ging weiter zurück. Schimmel erinnerte ihn weniger an seinen Sohn Ulrich, dem sie äußerlich ähnlich sah, als an seine eigene Mutter, auf die er sich aus seiner ersten, bewußten Kindheit her noch sehr gut besann.

      Und sie war reizend anzusehen in ihrem Eifer, so hübsch und blühend in ihrer noch ganz unbewußten Jugend.

      Doktor Gerstenberg war, aller Erwartung zuwider, zeitig aufgestanden. Er erschien fröhlich und unbekümmert in kurzer Hose im Hof, wusch sich am Brunnen und rasierte sich auch dort. Claudia kam mit dieser Nachricht zu Schimmel gerannt und wollte sich darüber totlachen. Aber Schimmel nannte das ein albernes Gehabe. Natürlich mußte er sich rasieren, er konnte ja nicht wie der Nikolaus umherlaufen.

      „Du bist wohl schlechter Laune?“ fragte Claudia spitz. Schimmel wandte ihr verächtlich den Rücken. Sie merkte, daß ihre Verteidigung etwas zu feurig ausgefallen war. So nahm sie einen Stapel Taschentücher, drückte ihn Plum in die Hand und sagte barsch:

      „Bitte, hänge auf, aber ordentlich, verstanden?“

      Neuchen hatte angeordnet, daß für die Jungen im Garten gedeckt würde, aber Doktor Gerstenberg hatte himmelhoch gebeten, keine Umstände zu machen. Sie hätten ja jeder einen Fahrtenbecher, und den würden sie auf den Tisch stellen und nachher am Brunnen ausspülen. Brot hätten sie auch.

      „Brot!“ lachte Neuchen. „Hier!“, und sie drückte dem jungen Lehrer die Riesenplatte Kuchen in die Hand, die sie soeben in der Speisekammer aufgeschnitten hatte. Sein Gesicht verklärte sich. Er gönnte seinen Internatsjungen, die doch im größten „Freßalter“ waren, das Beste. Nach dem Frühstück verlangten die Jungen stürmisch nach einem Völkerballspiel. Die beiden Kleinen, Plisch und Plum, sprangen hoch vor Begeisterung. Man zog gemeinsam zum Holzplatz, und nun ging es los.

      Die Geschwister pflegten sonst „Familie Goetz“ gegen das Dorf zu spielen und zu siegen. Schimmel meinte, es sei nur recht und billig, wenn auch jetzt die Familie Goetz zusammenspiele. Aber dann war sie auch einverstanden, als die beiden größten Jungen, Uli und Rüdiger, der älteste der Fahrtteilnehmer, zum Wählen bestimmt wurden. Man stand im Kreis, und es wurde blitzschnell gewählt, erst die besten Jungen, die sich und ihre Fähigkeiten gut kannten, dann Gerstenberg und dann die Mädel, mehr dem Alter nach, weil die Jungen ja nicht wußten, wie sie spielen würden. Oh, die Jungen sollten was erleben!

      Aber wer etwas erleben sollte, das waren überraschenderweise die Goetzschen Geschwister. Die Jungen spielten derart scharf und schnell, daß man den Atem verlor; bereits in der ersten Minute waren von Schimmels Partei drei Mann abgeschossen. Zum Glück war Plisch noch im Feld. Und an Plisch, die nach der ersten Verblüffung sich auf ihren Ruhm und Ehrgeiz besann, bissen sich die Jungen nun doch einige Zähne heraus.

      Plisch war so gut wie nicht zu treffen. Sie war noch klein, biegsam und sehr wendig. Als der Ball einmal etwas weiter weg in die Brennesseln flog, hatte sie Zeit, das Kleid, das sie noch trug, über den Kopf zu ziehen und seitlich wegzuwerfen. Nun, im Turnzeug, war sie erst richtig in ihrem Element. Trotzdem mußte sie ungeheuer aufpassen.

      Die Jungen spielten so, daß man nicht nur von hinten, wo der Spion stand, sondern ringsum vom feindlichen Feld aus abschießen durfte. Plisch, als die einzige „Überlebende“, mußte also nach drei Seiten hin achtgeben. Und die Jungen warfen so, daß Treffer nicht nur blaue, sondern feuerrote Flecke hinterließen.

      Aber sie hielt sich. Sie fegte umher, wich seitlich aus mit großer Gewandtheit und überschlug sich auf der Erde, wenn sie einem flachen Schuß ausweichen mußte, schnellte wieder hoch. Ihre Zöpfe hingen halboffen um die Schultern, und ihre Augen funkelten.

      Jetzt – das war ein Schuß, dem nicht auszuweichen war. Mitten auf den Mann, von ganz nahe – jetzt war es aus. Schimmel wollte schon ins andere Feld hinübergehen, damit das Revanchespiel beginnen sollte, da sah sie, daß Plisch den Schuß, der sie mitten auf den Bauch getroffen hatte, hielt. Ihre Hände mußten brennen, aber sie hielt fest, der Ball fiel nicht herunter. Und nun wurde aus dem gejagten Hasen im Augenblick der Jäger.

      Schuß, weg war der eine Junge, Plisch hatte ihn am Knie getroffen. Diese Bälle waren nicht zu halten. Der Ball prallte zurück in ihr eigenes Feld, sie warf sich nach vorn und erwischte ihn um Haaresbreite, ehe er in den Außenraum rollte. Schuß, der nächste Junge, der sich vor der „Kleinen“ nicht in acht genommen hatte, und nun stand es tatsächlich eins zu eins, auf jeder Seite ein letzter Mann. Plisch gegenüber allerdings ein wirklicher Mann, ein Junge, der ungefähr doppelt so lang war wie sie.

      Das sah so komisch aus, daß sie alle laut loslachten, nur Plisch und der Junge nicht.

      Das Spiel wurde tatsächlich zum Schauspiel. Die anderen hatten nichts mehr zu tun, die beiden bepfefferten sich mit Bällen, die sie fast alle hielten. Wenn die Außenmänner eingegriffen hätten, wäre es ja kein Zweikampf mehr gewesen, der ihnen aber gerade Spaß machte.

      Der Ball verließ die beiden Felder nicht mehr. Plisch rollte auf der Erde und der Junge machte große Sprünge, angelte den Ball aus den unwahrscheinlichsten Gegenden und schoß, so scharf er konnte. Es ging lange hin und her; von Schonung oder Kavaliersrücksichten war nicht die Rede. Schließlich landete der Junge einen Volltreffer zwar nicht auf Plisch, aber doch auf ihren Zopf, der gerade waagerecht seitlich flog.

      „Tot“, schrien die rauhen Jungenkehlen, aber Plisch protestierte gellend. Einen Zopf könne man abschneiden, ohne daß es weh tue; der Schuß sei höchstens ein Streifer gewesen. So, wie wenn der Ball einen flatternden Rock treffe.

      „Ja, immer wollt ihr Vorteile haben“, pustete der Siegreiche, „wir haben keine Zöpfe, natürlich!“

      Das klang so unbeschreiblich komisch in seiner anklagenden Wut,