Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lise Gast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711509463
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dann vom Direktor zurückkamen, hatte nicht nur Uli sich seinen Urlaub erfochten, sondern auch Gerstenberg. Mit dem strahlendsten Lächeln verkündete er: „Wissen Sie was? Wir haben uns beide bis morgen abend frei geben lassen. Das Wetter ist schön, wir alle sind so jung, da fahren wir mit in den Harz. – Aber erst genießen wir die Großstadt. Ja, das müssen wir, wo doch gerade der Erste gewesen ist!“

      Schnell hatten die Männer ihre Sachen zusammengesucht, und dann radelten sie zu dritt der Stadt zu.

      „Ich werde Buchhändlerin, jedenfalls ist das mein größter Wunsch“, erzählte Schimmel, als sie vor dem ersten Buchladen abstiegen; „deshalb will ich auch unbedingt das Abitur machen.“ Sie traten in den Laden, und Schimmel war für eine Viertelstunde für die anderen verloren. Was gibt es Schöneres, als in Büchern zu kramen, Titel zu lesen und Zeitschriften durchzusehen? Wahrscheinlich hätte sie den ganzen Nachmittag so verbracht, wenn die beiden Männer nicht erst sanft, dann dringlicher gemahnt hätten. Gerstenberg kaufte eine Harzkarte, Schimmel verließ den Laden hochbeglückt, sie hatte auch Verschiedenes bestellt. „Für Weihnachten“, sagte sie und verstand nicht, daß die beiden anderen laut lachten: Im Juni Weihnachtsbesorgungen! „Aber wir sind eine große Familie, da muß man zeitig anfangen“, sagte sie halb entschuldigend, halb verlegen; „jeder muß doch ein Buch haben, das ist bei uns so üblich.“

      Während die Geschwister sich in einem Café stärkten, erledigte Gerstenberg geschwind seine Besorgungen. Und dann machten sie sich gemeinsam auf die Fahrt.

      Schimmel war froh, daß die beiden mitfuhren. Nun brauchte sie sich nicht vor den fremden Schwestern zu fürchten, bei denen die Kleinen vier Wochen verbracht hatten. Munter ging die Unterhaltung von Rad zu Rad. „Wo gehen Sie in die Schule“, fragte Gerstenberg.

      „Augenblicklich gar nicht; aber ich hoffe, ich komme nach den großen Ferien wieder rein, wenn auch bei uns die Gelegenheit sehr ungünstig ist.“ Sie schilderte ihren Wohnort, das einsame, wunderschön gelegene Gut Holdershausen, fünf Kilometer von der Kreisstation entfernt, und diese wieder zehn Kilometer von der Kreisstadt, in der die höhere Schule war. Gerstenberg hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts weiter, und so fuhren sie manchen Kilometer dahin, sich nur ab und zu einmal ein fröhliches Wort zurufend. Die Sonne brannte jetzt, die Landschaft wurde hügeliger, und manchesmal mußten die drei von den Rädern absteigen und schieben. Aber schön war’s dann wieder, wenn man mit Freilauf bergab rollen konnte. Als sie sich für eine Weile im Gras lagerten, um ein bißchen zu verschnaufen – weit ging der Blick über das Land dahin, über Felder und Wiesen, über Dörfer, die mit ihren leuchtenden Farben so friedlich dalagen –, da nahm Gerstenberg das frühere Gespräch wieder auf: „In Harzburg ist ein ähnliches Heim wie unseres, für Mädel, sozusagen ein Schwesterunternehmen. Dort könnten Sie doch hin, wenn Sie gut in der Schule sind. Vielleicht bekommen Sie auch – wie so viele Schüler heutzutage – eine Ermäßigung, besonders da Uli ja auch auf die höhere Schule geht. Ein solches Internat ist ja nicht mehr so wie früher ausschließlich eine Angelegenheit für vermögende Leute. Ich kenne den Leiter dort und könnte gut mit ihm sprechen.“ – „O Herr Doktor“, sagte Schimmel mit weit aufgerissenen Augen, „das wäre ja großartig! Wird man da ohne Schwierigkeiten aufgenommen? Könnten wir nicht schon gleich einmal fragen?“ –

      „Das können wir gern, ich werde nachher einmal hingehen‘, sagte er freundlich, „es wäre doch sehr schön für Sie. Das Heim liegt wunderbar, und Sie könnten sich öfter mit Uli treffen. Wir haben verschiedene Geschwisterpaare in den beiden Schulen. Aber kommen Sie denn so ohne weiteres von zu Hause fort? Eigentlich sind Sie dort doch wohl unentbehrlich.“ – „Aber wieso denn?“ fragte Schimmel und wurde dunkelrot.

      „Nun, ich meine, Ihre Mutter hat in Ihnen doch wohl ein rechtes Hausmütterchen. Ob sie das entbehren kann?“

      „Ich muß aber doch etwas werden“, sagte Schimmel erschrocken; „wir Mädel müssen doch alle einen Beruf haben.“ – „Ich kann das verstehen“, sagte er freundlich; „und wenn Ihnen daran liegt, spreche ich mit dem Direktor. Die Gelegenheit ist doch sehr günstig.“ –

      Es war Abend, als sie in Harzburg ankamen. Sie fuhren gleich in das Kinderheim. Gerstenberg klingelte und sprach mit der öffnenden Schwester. Schimmel stand hinter ihm, während Uli an der Gartentür bei den Rädern geblieben war. Und dann hörte Schimmel, wie die Schwester rief: „Sagt Petra und Claudia Goetz, ihre Eltern seien da, sie abzuholen.“ Gerstenberg lachte; Schimmel war das doch etwas peinlich. Und dann überfiel sie plötzlich der schmerzliche Gedanke, daß die Kleinen niemals richtig wissen würden, was es heißt, Eltern zu haben. Einen warmen Unterschlupf, eine Mutter, die für sie sorgte, Geschwister, ja, die hatten sie, aber Eltern – nein, seit der Vater gefallen war, nicht mehr.

      Da waren auch schon die Kleinen. „Sagt mal Guten Tag, ihr seht ja prächtig aus!“

      Wirklich, sie hatten sich großartig herausgefuttert, die beiden Zehnjährigen. Petra oder Plisch, wie die ganze Familie sie nannte, strahlte vor Lebendigkeit und Frische, ihre Augen waren so dunkelveilchenblau wie bei keinem der anderen Geschwister, und ihre hellen Zöpfe ringelten sich an den Enden und im Nacken. Sie war sehr hübsch, vielleicht das hübscheste Kind der Familie. Das machte aber auch ihr Temperament. Sie war gleich mitten in einer wichtigen Erzählung, Schimmel hörte nur halb hin und betrachtete dabei Claudia, die zweite.

      Auch sie sah gut aus, braun und rotbäckig, dunkler im Haar, aber noch blond wirkend. Sie hatte als einzige dunkle Augenbrauen und darunter hellgraue, ein klein wenig auseinanderstehende Augen. Ganz besondere Augen übrigens: sie konnte sie aufschlagen, so scheinheilig und fromm, daß jeder darauf hereinfiel. Dabei war Plum wahrhaftig kein Tugendbold, sondern in einer Art noch wilder als Plisch und von einer Zähigkeit, sich ihre Freiheit zu sichern, daß selbst die Strenge einer großen Schwester daran scheiterte.

      Das Heim war des Lobes voll über das Betragen der Zwillinge Gottlob!

      Schimmel durfte über Nacht im Heim bleiben, während die beiden Männer in der Jugendherberge nächtigen wollten. Am anderen Morgen sollten die Kleinen dann in den Zug gesetzt werden und nach Holdershausen fahren, allein! Sie funkelten vor Wonne, als sie das hörten. Als die Männer gegangen waren, ließ sich Schimmel gern durch das Heim führen; sie bewunderte alles, die Turngeräte, den Eßraum, die Schlafsäle. Bis in die Nacht hinein stand Plischs Mundwerk nicht still, und auch Plum hatte viel zu erzählen. Schimmel ertappte sich immer wieder dabei, daß ihre Gedanken andere Wege liefen: Wenn es nun tatsächlich gelingen würde, in die Schule zu kommen, von der Gerstenberg gesprochen hatte?

      „Du hörst ja gar nicht zu“, beschwerte sich Plum, und Plisch wollte genau wissen, durch welche Städte sie führen und wie man gehen müßte, wenn Brita vielleicht nicht auf dem Bahnhof wäre.

      „Ich finde mich schon nach Holdershausen“, versicherte sie und war in Gedanken bereits auf der Reise. „Wir geben das Gepäck auf und laufen.“ – „Brita ist bestimmt an der Bahn“, sagte Schimmel und hörte nun wieder den Kleinen zu. „Sie holt euch mit dem Handwagen ab. Johannes kommt auch mit, er ist dort schon ganz zu Hause.“

      Sie kam spät zum Schlafen; denn obwohl der Reisetag seit langem feststand, mußte noch vieles gepackt werden, Schimmel spürte die vielen Kilometer doch in ihren Beinen, und so kam sie lange nicht zur Ruhe. Das Wiedersehen mit Uli und den Zwillingen hatte manches wachgerufen, was sich im Lauf der Jahre und im Alltagsleben schon ein wenig verwischt hatte.

      Uli und sie, die beiden Ältesten, hatten glücklicherweise noch eine lebendige Erinnerung an das Leben im Elternhaus vor dem Kriege in der rheinischen Großstadt, an die Wohnung nicht weit vom Strom und an die vielen grünen Uferanlagen. Der Vater hatte sein Architektenatelier in der Wohnung gehabt, und sehr selten, natürlich nur, wenn man artig war, durfte man mit ihm in den großen hellen Raum gehen, in dem so viele geheimnisvolle Papiere und Zeichnungen umherlagen. – Und dann kam der Krieg, der alles zerstörte. Das Haus verbrannte, ein Jahr später fiel der Vater.

      Erst lange nach Beendigung des Krieges hatte die Mutter sich entschlossen, zu ihrem Schwiegervater auf das westfälische Gut zu ziehen. Man gibt nicht leicht eine Selbständigkeit auf, hatte sie einmal zu Schimmel gesagt, besonders nicht, wenn man fünf Kinder mitbringt. Nun war es doch gut gegangen,