Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lise Gast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711509463
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bedrohlich ernst gewordene Lage gerettet, und man einigte sich auf unentschieden.

      Als Doktor Gerstenberg gleich nach dem Mittagessen von Wegfahren sprach, widersprach Schimmel nicht, obwohl sie es so schön gefunden hätte, wenn der Besuch noch einen Abend geblieben wäre. Wirklich zünftig sah die Kolonne aus, als sie dann endlich mit Rucksäcken und Packtaschen, mit Reserveschläuchen und Zeltbahnen ausgerüstet, abrückte. Als sie alle aufsaßen, packte Uli Schimmel und setzte sie vorn seitlich auf seine Stange.

      „Jetzt wirst du entführt, los, du mußt mitkommen“, bestimmte er, und alle jubelten Beifall; auch Neuchen, die es sich natürlich nicht hatte nehmen lassen, beim Start dabei zu sein. Sie rief vergnügt: „Nehmt sie nur mit. Wollt ihr sie nicht überhaupt mitnehmen?“

      „Los, ja, das wäre prima“, riefen die Jungen, und auch Gerstenberg war sehr einverstanden.

      „Sie müßte uns kochen und die Knöpfe annähen, so was fehlt uns gerade“, sagte er. Schimmel lachte und sträubte sich, wenn auch nicht sehr, denn sie wäre doch sehr gern mitgefahren.

      So guckte sie nur ein wenig verlegen zu Doktor Gerstenberg hin.

      An der Waldecke, wo Großvaters Flur endete und der lange Berg anfing, bat Schimmel, abgesetzt zu werden. Die Jungen überlegten ernsthaft, ob man sie nicht mit Gewalt zwingen solle, mitzukommen. So was gab es früher, sagten sie und fanden, sie seien doch in ein ziemlich fades Zeitalter hineingeboren. Gerstenberg lachte. Einen Umbruch hatten die Jungen erlebt, wie er wohl seit dem Dreißigjährigen Krieg nicht dagewesen war, Flucht und Elend, Grenzübertritte und primitives Lagerleben, nicht aus Romantik, sondern aus bitterster Notwendigkeit, schwere Arbeit in jugendlichem Alter, Kampf ums Dasein – und sie fanden, daß sie doch allzu bürgerlich lebten! Aber es war doch gut so, daß Jugend so etwas genießt, statt darunter zu leiden.

      Sie setzten sich noch ein wenig ins Gras an den Waldrand, und einer der Jungen knipste sie alle. Die Sonne stand schon schräg. Wie schön war doch die Heimat, auch hier! Schimmel ließ sich auf der Karte zeigen, wo sie überall hinwollten. Bamberg und Würzburg, Wertheim und Miltenberg standen auf dem Programm.

      „Vielleicht fährst du nächstes Jahr mit, wenn du ein eigenes Rad hast“, tröstete Uli, und Schimmel nickte. Natürlich, die Möglichkeit gab es vielleicht später noch.

      Schimmel stand noch eine Weile und winkte ihnen nach. Aber nicht Uli war der letzte, der sich zu ihr umdrehte, sondern Gerstenberg. Dann wandte sie sich schnell um und ging rasch los, als wollte sie diesen Gedanken entkommen. Gleich darauf hörte sie sich angerufen. Sie sah auf und erkannte unten an der Chaussee Großvaters Wagen, die „Spinne“, den hochräderigen Einspänner, mit dem er um die Felder zu fahren pflegte. Rasch lief sie die Wiese hinunter, ihm entgegen.

      Er saß im Wagen und hatte die Zügel in seinen guten, alten Händen und sah ihr freundlich entgegen.

      „Komm, steig ein, da brauchst du nicht zu laufen.“

      Sie tat es. Sie war nur selten mit Großvater um die Felder gefahren, und es war ihr ein wenig feierlich zumute, als sie es jetzt wieder einmal durfte. So neben ihm zu sitzen war eine Auszeichnung, und sie wagte kein Wort zu sagen.

      „Siehst du, das ist Saatweizen. Steht er nicht großartig?“ fragte Großvater nach einer Weile. „Er muß ganz rein sein, dort sieht man zum Beispiel noch einige Roggenähren. Voriges Jahr stand hier Roggen. Die müssen wir noch alle herausreißen, ehe geerntet wird.“

      „Großvater“, fragte Schimmel, „wie kommt man eigentlich zu neuen Getreidesorten? Das habe ich mir schon immer überlegt. Warum nehmt ihr immer neue?“

      „Neue Sorten entstehen durch Kreuzung. Das macht die Saatzucht, so wie die Tierzucht neue Leistungstiere hervorbringt, indem sie Rassen kreuzt“, sagte Großvater. „Saatzucht ist etwas sehr Interessantes und Wichtiges. Und neue Sorten braucht man, weil die alten, auch die bewährten, sich erschöpfen. Man muß viele Fachzeitschriften lesen und Vorträge hören, und auf anderen Gütern muß man sich umsehen, herumhorchen und fragen, damit man auf der Höhe bleibt. Wäre das nicht einmal ein Beruf für einen von euch, Saatzucht oder auch Tierzucht?“

      „Vielleicht für Uli“, sagte Schimmel ein wenig hastig. „Uli ist ja doch der geborene Landwirt, er ist auch so froh, daß wir hier sind.“

      „Du auch?“ fragte Großvater.

      „Ich? Ach, Großvater, du kannst dir nicht vorstellen, wie gern ich hier bin!“ Schimmel schwieg. Sie waren jetzt so weit gefahren, daß sie Holdershausen vor sich liegen sahen, in der sanften Talmulde, in die es gebettet lag, mit den alten Gebäuden und Ställen, den riesenhaften Linden, dem Kornhaus, das kühn und steil aufragte. Es war schon vor dem Dreißigjährigen Krieg gebaut worden und es erinnerte fast an ein Schiff in seiner schmalen, steilen Art. Wie es über der Schmiedetür dunkel angeraucht war, alles so echtso wie gewachsen, so unverfälscht und stark.

      Noch vor zwei Jahren hatte sich Schimmel keinen rechten Begriff von Westfalen machen können, und nun liebte sie dieses Land schon mit seinen welligen grünen Hügeln, den fruchtbaren Feldern und den vielen Koppeln mit buntem Vieh. Ja, und die breitgiebeligen alten Bauernhäuser und Gutshöfe, die nur selten von einer geschmacklosen Zeit in ihrem niedersächsischen Stil verschandelt wurden. Viele Häuser trugen noch immer die gekreuzten Pferdeköpfe am Giebel, und die roten Backsteinmauern stachen rot und freundlich vom dunklen Fachwerk der Eichenbalken ab. Viele riesige Eichen gibt es in Westfalen, wie wohl nirgends sonst mehr in Deutschland. Sie stehen dicht um die Höfe und bilden zusammen mit den niedrigen Mauern aus unbehauenen Feldsteinen einen wuchtigen Schutz, der von außen jeden Bauernhof zu einem Herrenhof macht.

      Schimmel konnte sich eine ganze Weile nicht von dem schönen Blick über das Dorf trennen. Kein Gebäude, das nicht in das Bild hineinpaßte. Vom alten Klosterhaus angefangen bis zu der neuen Schule, die links von der Einfahrt lag, etwas hingekuschelt am Hang. Nicht einmal das Gasthaus, das etwas abseits vor nicht allzu langer Zeit erbaut worden war, störte das Bild, vom alten Forsthaus gar nicht zu reden. Das war in seiner behäbigen Breite mit den vier Steinputten davor, die Frühling, Sommer, Herbst und Winter darstellten, so echt und bodenständig wie nur möglich; es war einmal das Haus der Äbte gewesen. Und dahinter der Wald, sanft ansteigend bis zu einem wirklichen Berg, auf dem, haarscharf hingezeichnet, ein hölzerner Turm stand, die „Nadel“.

      „Hat Vater Holdershausen auch so geliebt?“ fragte Schimmel endlich.

      Großvater hörte das „auch“, das ihr unbewußt entschlüpft war, und fühlte das kleine Wort warm in sein Herz fallen.

      „Sehr“, sagte er ruhig, „obwohl er ja fortging. „Johannes hätte das Gut übernommen, wenn er wiedergekommen wäre. Aber dein Vater liebte seine Heimat auch sehr, und er wäre sicher froh, wenn er wüßte, daß ihr jetzt hier seid.“

      Jetzt, ja, jetzt sollte er es wissen. – „Großvater“, fuhr Schimmel nach einer kleinen Pause fort, „Großvater, sag, glaubst du, daß etwas, was man tun muß – nein, tun will, aus eigenem Antrieb, daß das weniger wert ist, wenn man es gern tut?“

      „Eine merkwürdige Frage“, sagte Großvater und lachte, aber nicht überlegen spöttisch wie andere Erwachsene manchmal, sondern sehr verständnisvoll. „Eine Frage, die einem oft im Leben begegnet. Muß der Pfad der Pflicht immer und überall dornenvoll sein? Du meinst wie viele andere auch, die allzuviel nachdenken, ein Opfer, das man bringen will, müsse weh tun, sonst sei es kein Opfer. Ich aber bin anderer Meinung, Schimmel, und da du mich fragst, antworte ich dir offen. Das Wort Opfer klingt so großartig; aber es ist besser, man tut es gern, mit frohem Herzen. Deshalb, kleiner Schimmel, wenn du etwas tust, dann tu es gern und freundlich, soweit es in deiner Macht steht. Und die Art, in der wir handeln, steht immer in unserer Macht. Kennst du den Spruch:

      Wohltun und nicht freundlich sein,

      reicht ein Brot und macht’s zu Stein.“

      „Nein, Großvater, ich hab ihn nie gehört. Aber erlebt haben wir das im Krieg allzu oft.“

      Sie sah ihn einen Augenblick an. Er erblickte eine Dunkelheit im Grunde ihrer Augen, die er sonst nie bemerkt hatte. Ganz folgenlos,