Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lise Gast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711509463
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neu und jung und zukunftsgläubig und dankbar. Schimmel fühlte, wie ihre Stimme zu schwanken begann. Es ging ja nicht nur Großvater an, dieses Lied: „Bis hierher hat mich Gott gebracht mit seiner großen Güte!“

      Sie sangen drei Strophen. Dann, als sie schwiegen, ging die Tür auf und Großvater trat heraus. Er stand einen Augenblick im Licht der hinter ihm durchs Fenster fallenden Sonne; man sah nur seinen Umriß, golden überstrahlt. Schimmel ging ihm einen Schritt entgegen, und dann tat sie etwas, was sie noch nie getan hatte und was in der Familie eigentlich nicht üblich gewesen war: sie küßte ihm die Hand. Und auf die alte, ein wenig runzlige und doch noch starke Männerhand fiel ein warmer Tropfen.

      Großvater beugte sich zu Schimmel hinunter und küßte sie auf die Wange.

      „Danke“, sagte er leise, „danke. Ihr meine Lieben, Lieben ...“ er schwieg. Dann warf Plisch sich ihm an den Hals, und die andern folgten. Großvater hob Johannes zu sich auf, den kleinen, dummen und nichtsahnenden Jungen, der den Namen des ältesten Sohnes trug, der auch Großvaters Name war, Johannes Goetz.

      „Das habt ihr wunderbar gemacht, wirklich wunderbar“, sagte Neuchen und mußte sich geräuschvoll die Nase putzen; „ihr seid eine großartige Bande. Nein so was, niemand hätte im Leben daran gedacht, ich jedenfalls nicht. Jetzt aber wollen wir frühstücken, ganz unter uns, nur wir, ehe der Strom der Gäste hereinbricht.“

      Schimmel und Brita liefen und sprangen. Es war noch früh am Morgen, und ehe die Mamsell und die Mädchen auftauchten, war das Feuer schnell in Gang gebracht, in einer Viertelstunde duftete es bereits bitter und stark nach Kaffee, und Neuchen erschien mit einer Riesenplatte Kuchen.

      „Ich wollte ihn ja erst am Nachmittag anschneiden; aber nun muß ich es doch jetzt schon tun. Kommt, kommt. So schön haben wir es den ganzen Tag nicht wieder!“

      Sie hatte wirklich recht! Jetzt war das Eßzimmer durchflutet von einer hellen, silbernen Sonne, und vor Großvaters Platz stand ein schönes Glas, in dem die drei Rosen funkelten.

      „Schimmel, mein Kind“, sagte der Großvater leise, als sie alle schon fröhlich gegessen und getrunken hatten, „drei Rosen hast du mir gebracht. Drei Kinder habe ich gehabt. Maria lebt noch. Euer Vater ist gefallen, er lebt in Uli fort, mit dem Namen, und, so Gott will, auch im Geist. Johannes, mein ältester ist in Rußland vermißt, niemand weiß von seinem Schicksal. Vielleicht lebt er noch –“ Großvater schwieg einen Augenblick. Dann fuhr er ruhig und in seiner milden, gütigen Art fort: „Ob er lebt oder nicht, ihr habt euern jüngsten Sohn nach ihm genannt. Aber nicht nur in den Söhnen und in den Namen lebt das Blut der alten Familie, auch in den Enkelinnen, Schimmel und Brita, Petra und Claudia.“

      Sie schwiegen alle.

      „Daß ihr da seid und da bleibt, nie werde ich dankbar genug sein können“, schloß Großvater still und legte seine Hand auf die seiner Schwiegertochter. –

      Es wurde ein unruhiger Festtag. Alle halfen nach Kräften, auch Schimmel und Brita taten, was sie konnten; aber es gab doch eine Anzahl schwieriger Situationen. Denn es kam viel Besuch. Die ganze Umgebung wallfahrtete nach Holdershausen, und die Kleinen liefen unbeaufsichtigt dazwischen umher. Johannes war eine Zeitlang verschwunden; Brita fand ihn schließlich in der Speisekammer, wo er Kuchen und Wurst in sich hineinstopfte. Sie schalt und führte ihn ab, während Neuchen nur lachte. Mochte der Bengel nur essen! Am Nachmittag kam Uli; er war mit dem Rad gefahren und wollte am Abend wieder fort, aber dagewesen wollte er eben doch sein. Er brachte einen Aufsatz mit, für den er einen ersten Preis erhalten hatte. Der Aufsatz war sogar gedruckt und honoriert worden.

      Mitten in die Aufregung hinein, die diese Neuigkeit verursachte, platzte neuer Besuch, sehr zu Schimmels Ärger, denn sie fürchtete, daß Ulis Verdienst dadurch geschmälert werden könnte. Uli selbst jedoch war es viel lieber so, wie man deutlich merkte; er war kein Mensch, der mit seinen Erfolgen „angab“. Daß er Großvater gerade an diesem Tage eine Freude hatte machen können, freute ihn, damit aber auch genug.

      So ging der Nachmittag hin. Man tanzte viel, denn es kam viel neuer Besuch; auch Neuchen tanzte manchen Walzer und Rheinländer.

      Schimmel dachte mit Kummer daran, daß Uli bald wieder aufbrechen müßte. Viele Kilometer lagen vor ihm, und er sollte am anderen Morgen wieder in der Schule sitzen.

      „Mache dir keine Gedanken, die Nacht ist lang“, sagte er, „und dann ist’s auch kühler. Einen so schönen Tag muß man genießen. Hast du übrigens mit Mutter gesprochen? Was sagt sie denn zu unserm Plan mit der Harzburger Schule?“

      Sie tanzten gerade den Walzer „Die schöne blaue Donau“, linksherum und rechtsherum, Schimmel sah im Drehen zu ihm auf.

      „Ich habe noch nichts davon gesagt, so feige bin ich. Ich konnte nicht. Es kam dauernd was anderes, und Mutter ist ja den ganzen Tag draußen. Abends hat sie dann noch so viel mit Großvater zu besprechen. Ich hoffte, du würdest einspringen und mir das abnehmen.“

      „Heute schwerlich“, sagte Uli – sie tanzten immer noch –. „Du, Schimmel, in den Ferien habe ich was vor, ich will mit ein paar anderen und Gerstenberg eine Radtour machen. Es kostet Mutter nichts, ich habe doch Geld verdient. Es geht nicht einmal alles dabei drauf. Natürlich nicht die ganzen Ferien.“

      „Das wird sicher sehr schön für dich“, sagte Schimmel leise, ohne aufzublicken; sie war enttäuscht, denn sie hatte sich so sehr auf die Ferien mit Uli gefreut; aber das wollte sie nicht merken lassen. „Fahrt ihr gleich von dort aus los?“

      „Nein, ich komme erst her, einige Tage. Wir treffen uns dann wieder auf halbem Wege, es liegt ja an der Strecke. Wir wollen an den Main. Oder was meinst du? Sollen die andern mich hier abholen? Es sind nette Jungen, alle miteinander.“

      „Aus deiner Klasse? Alle? Sicher, das wäre schön“, sagte Schimmel.

      „Gerstenberg fragte mich nämlich“, fuhr Uli fort, „als ich hierherfuhr, ob er mich mit den andern hier abholen sollte. Ich konnte es ihm ja nicht versprechen, ich wußte ja nicht, ob das geht. Aber Großvater hat sicher nichts dagegen, wenn die Jungen kommen, was meinst du?“

      „Aber bestimmt nicht!“ – Sie tanzten immer noch rundum, als einziges Paar, so daß Schimmels Kleid wehte.

      „Du, da kann doch Gerstenberg mit Mutter reden, von ihm stammt ja auch der Gedanke, daß du auf die Schule in Harzburg kommen sollst. Oder? – Na also, ich hatte es so in Erinnerung. Das wäre doch sehr günstig, wenn du Mutter sowieso noch nichts gesagt hast.“

      „Es wäre sogar fabelhaft günstig“, sagte Schimmel leise, „Uli, jetzt muß ich aber zu Neuchen in die Küche und helfen.“

      Als Schimmel endlich erhitzt und erschöpft in die Küche kam, merkte sie, daß Neuchen doch ärgerlich war. Die beiden Küchenmädel zeigten sich dem Ansturm nicht gewachsen, und sie hatten doch mit Schimmel gerechnet. Mutter war in ein landwirtschaftliches Gespräch mit einem Besuch verwickelt, sie konnte nicht herauskommen. Schimmel war sehr bestürzt, nichts war ihr schrecklicher, als Neuchen heute zu enttäuschen, und so versuchte sie denn, ihr Versäumnis durch doppelten Eifer wieder wett zu machen. Wo steckte übrigens Brita, und wo mochten um Himmels willen die drei Kleinen sein? Sicher waren sie auf Abwegen, und man müßte sich eigentlich nach ihnen umsehen.

      Aber es gelang Schimmel nicht einmal, nur einen Augenblick zu entkommen, um Uli auf die Spur der Zwillinge zu setzen. Es ging jetzt hintereinander weiter. Abendbrot mußte gerichtet, der Tisch frisch gedeckt und das Eßzimmer in Ordnung gebracht werden, Neuchen flitzte und war überall und nirgends, und Schimmel konnte nicht fort.

      Über dem siebzigsten Geburtstag schien ein guter Stern zu stehen. Als sie den Tisch fertig gedeckt hatten, waren sogar die beiden kleinen Schwestern plötzlich zur Stelle, sauber gewaschen und glatt gekämmt, ja, sie hatten sogar Johannes bei sich. Auch er war übermäßig abgeschrubbt, sein Gesicht glühte, und der Scheitel war mit Wasser angepappt, so daß der kleine Kerl ganz fremd aussah, weil man seine weiße, sonst von den Haaren verdeckte und unverbrannte Stirn sah.

      Sie setzten sich alle drei artig und gesittet an den Tisch – Petra hatte manchmal pädagogische Anwandlungen. Großvater