Grosse Schwester Schimmel. Lise Gast. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lise Gast
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711509463
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Schimmel schüttelte den Kopf, sie schämte sich ihrer Unentschlossenheit. „Schimmel, wo drückt denn der Schuh?“ fragte nun auch Uli leise. Er hatte den Augenblick abgepaßt, als sich die andern auf die Nudelsuppe stürzten und Schimmel eben die Schüssel genommen hatte, um neuen Vorrat aus der Küche zu holen. Uli kam ihr in den Flur nach.

      „Ach nichts, Uli, wenigstens nichts Besonderes. Ich hätte so gern einmal ausführlich mit dir geredet; aber das wird ja wohl heute nicht möglich sein.“

      „Kaum, Schwesterherz. Aber vielleicht morgen? Gar zu zeitig werden wir nach dieser kurzen Nacht wohl nicht weiterfahren.“

      „Das wäre schön“, sagte Schimmel hastig, wenn auch nicht voll überzeugt, sie hatte gleich wieder Befürchtungen, ob der Besuch im Hause nicht zu viel werden würde. Man konnte sich hier nicht so gehen lassen, wie man wohl wollte. Gerade weil Neuchen so nett und verständnisvoll war, durfte man den Bogen nicht überspannen. Schimmel gehörte zu den Menschen, die sich ewig verpflichtet fühlen, auf die Gedanken der andern zu achten. Mutter war viel unbedenklicher. Aber Mutter war auch den ganzen Tag fort und merkte nicht, daß der große Betrieb, der durch den Einbruch der jungen Familie im Gutshaus entstanden war, Großvater und Neuchen eben mit der Zeit doch auf die Nerven ging.

      Neuchen sah müde aus, so lebhaft ihr Mienenspiel auch war. Sie hatte Schatten unter den Augen, und morgen war Wäsche, da war sie schon von früh an auf den Beinen. Doch sie ließ sich einfach nicht ins Bett schicken.

      Schimmel gab Uli einen Wink. Sie wollten die jungen Reisenden so schnell wie möglich in ihrer Scheune unterbringen, damit endlich Ruhe würde. Er verstand sie und wandte sich an seinen Lehrer. Da aber trafen gerade die beiden Vermißten ein. Nun zog sich die Sache doch noch in die Länge, und es war halb zwei, als endlich Ruhe im Hause herrschte. Gerstenberg hatte, ehe er sich verabschiedete, unbefangen zu Neuchen gesagt, ganz so früh würden sie morgen doch nicht loskommen. Ob er seinen und seiner Leute Kochpott morgen noch mal auf ihren gastlichen Herd setzen dürfe. Sie würden sich ihre Mahlzeit selbstverständlich selbst kochen, hätten alles mit, aber wie gesagt, der Aufbruch könnte ja nicht so zeitig stattfinden.

      Neuchen erklärte sich natürlich einverstanden. Schimmel stellte ihren Wecker eine halbe Stunde früher als sonst. Wenn sie nur aufwachte! Im Grunde wäre es vernünftiger gewesen, überhaupt nichtschlafen zu gehen.

      Sie überlegte das ernstlich, während sie sich das Haar vor dem Schlafengehen bürstete. Sie war so hellwach und aufgeräumt, daß sie bestimmt nicht gleich einschlafen würde.

      Sie stand am Fenster und sah hinaus. Wurde es schon wieder hell oder bildete sie sich das nur ein? Im Garten knackte ein Zweig unter einem Schritt. Sie beugte sich über das Fensterbrett: „Uli?“

      „Ja! Bist du noch wach?“

      „Sehr. Viel zu schwach. Du, warte, ich komm’ hinunter.“

      Sie schlüpfte in den Trainingsanzug und schlich barfuß durch den Flur. An der Hintertür stand Uli.

      „Schimmel, ich kann nicht schlafen. Du sahst so versorgt aus.“

      „Ach, ich bin doch eine dumme Pute. Daß man mir so was auch gleich ansehen muß.“ Am liebsten hätte sie geheult.

      „Du mußt mir alles erzählen.“

      „Ach, es ist ja nichts zu erzählen, gar nichts, nur Kleinigkeiten. Lauter kleine Nägel im Schuh. Sachen, die man eigentlich gar nicht auseinanderklauben kann! Ausgesprochen klingen sie so dumm und nichtig.“

      „Ist denn hier nirgends ein Platz, wo man vernünftig reden kann?“ fragte Uli.

      Sie gingen dem Klosterteich zu und setzten sich an das abfallende Ufer. Das Wasser leuchtete bleich, der Himmel war nicht dunkel, es wehte eine süße, milde Luft.

      „Eine Linde blüht“, sagte Uli leise; riechst du es? Ach Schimmel, ist es nicht wunderbar, daß ihr hier seid, daß wir alle wieder eine Heimat haben, eine richtige mit Bäumen und Erde und allem, was zu einer Heimat gehört!“

      Er hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt, und als er fühlte, daß sie weinte, nahm er ihren Kopf. So saßen sie eine Weile. Dann fragte Uli vorsichtig: „Willst du nicht sagen, was dich bedrückt?“

      Sie schüttelte den Kopf. Das Schlimmste war schon vorbei, fand sie, nun da Uli neben ihr saß. Es fiel ihr ohnehin immer schwer, sich mitzuteilen.

      „Ich krieg’ es schon von selbst hin, Uli“, sagte sie und versuchte, tapfer zu lächeln, „laß mir nur Zeit. Doktor Gerstenberg habe ich ja Bescheid gesagt, daß er mir nicht zuvorkommt. Ich habe nämlich mit Mutter noch nicht gesprochen.“

      „Immer noch nicht?“ Uli wunderte sich. Sie sagte ein wenig hastig und bittend:

      „Ich konnte noch nicht, Uli. Ich bin noch nicht mit mir im Reinen. Kommt ihr auf dem Rückweg nochmal vorbei?“

      „Das ist eigentlich nicht vorgesehen, ich wollte mich auf der Rückfahrt ein oder zwei Tagereisen von hier entfernt von den anderen trennen. Aber wenn es für dich sehr nötig ist?“

      „Ich will eure Pläne nicht stören“, sagte Schimmel angstvoll, „nein, Uli. Und ich könnte es Mutter ja auch selber sagen, oder du tätest es. Es ist nur das: Doktor Gerstenberg kennt doch den Direktor dort und könnte Mutter das alles so gut klarmachen. Aber –“

      „Aber jetzt bist du dir doch noch nicht im Klaren darüber?“ fragte Uli mitleidig. Sie nickte schuldbewußt.

      „Nein, Uli. Ich bin es noch nicht. Ich bin weder ja noch nein, weder Fleisch noch Fisch. Ich möchte und will doch nicht ...“ Sie brach ab, denn ihre Stimme schwankte schon wieder.

      „Dann laß es doch, bis wir zurückkommen. Schlimmstenfalls rede ich dann mit Mutter darüber. Es ist dir doch recht so? Und vielleicht bringe ich Gerstenberg dazu, daß er auf der Rückfahrt noch den Umweg über Holdershausen macht. Er ist doch so nett.“

      „Ach nein“, stammelte Schimmel kläglich. Sie war von der schlaflosen Nacht verwirrt und von den ungewohnten Tränen wie fiebrig. Sie fühlte genauer als sie wußte, daß sich jetzt etwas sehr Wichtiges für sie entschied. Aber es sollte sich noch nicht entscheiden, nein, jetzt nicht. Sie konnte noch nicht Abschied von ihrem liebsten Traum und heißesten Wunsch nehmen, und doch wagte sie nicht mehr, ihn zu verteidigen und durchzukämpfen.

      „Komm, laß nur, wir entscheiden heute nichts mehr“, sagte der große Bruder jetzt, und es tat wohl, seine Stimme, die ein wenig dunkel klang, diese Worte sagen zu hören.

      Schimmel drückte das tränennasse Gesicht an seine Schulter. Wie warm so eine Mittsommernacht war, und wie heimatlich es roch! Die Linde mit ihrem Duft, das unbewegte Wasser und Ulis Gegenwart, so vertraut und wunderbar beruhigend, das alles kam zusammen. „Tatsächlich, sie schläft“, stellte Uli nach einem Weilchen fest, als er Schimmel gleichmäßig und ruhig atmen hörte und sich ein wenig gerührt hatte, um zu sehen, ob sie wach war. „Schläft das Mädel hier ein. Und ich? Und meine müden Knochen überläßt Schimmel ihrem Schicksal!“

      Aber er blieb sitzen. Er mußte ja, es wäre doch geradezu gemein gewesen, sie jetzt wachzurütteln und ins Haus zu scheuchen, den armen kummervollen Schimmel.

      Es wurde schon hell, als die Schwester erwachte, und der Teich blinkte wie gleißendes Silber, so hell, daß er ihr durch die geschlossenen Lider geleuchtet und sie aufgeweckt haben mochte.

      „Nein, aber Uli, habe ich geschlafen? Und du weckst mich nicht?“

      „Nein, Mäken. Du schliefst so sehr schön. Und siehst jetzt auch schon ganz anders als vorhin aus, wie ausgetauscht.“

      Es war wirklich so. Schimmel hatte in diesen wenigen Stunden so herrlich geschlafen, wie man das nur in ihrem Alter kann. Ihr war so wohl und frisch und mutig zu Sinn, geradezu wie neugeboren.

      „Ich hole jetzt den Badeanzug, und wir baden noch fix, und dann kriechst du noch schnell ins Stroh.“

      „Und du?“

      „Ich nicht, bewahre. Ich muß in die Küche, schnell