Er schrak entsetzt zusammen; wie fassungslos starrte er auf den Apparat, dessen Glocke eben zum zweiten Male schrillte. Wer konnte das sein? Wer konnte ihn in später Nacht sprechen wollen? Dann beruhigte er sich selbst: es war sicher Alfons Costa. Ja, ja, Costa war es ... das viele Geld ... dieser unverhoffte Reichtum ... Und während er den Hörer abnahm, wusste er plötzlich ganz genau: dass es nicht Costa war.
Eine Frauenstimme meldete sich. Eine Stimme, die er kannte — bei deren Klang ihm das Herz zu klopfen begann.
„Bist du es, Kilian? Weisst du, wer hier ist?“
„Nein“, antwortete er. Er log: denn er wusste es.
„Hier ist Léonie — hörst du, Kilian? Léonie — ja, ja — ich bin es, deine Frau.“
„Ja“, sagte er mit zitternder Stimme. „Du, Léonie ... Was willst du von mir?“
„Denk dir: ich komme eben mit dem Auto durch die Hitzigstrasse, direkt von Oberhof, weisst du; als wir in die Rauchstrasse einbiegen, sehe ich dich plötzlich neben dem Auto gehen. Ich habe dir zugewinkt, du hast es nicht gesehen. Bist du überrascht, Kilian?“ Und indem ein zärtliches Lachen in ihre Stimme trat, setzte sie fragend hinzu: „Bist du glücklich ...? Warum antwortest du nicht, Kilian?“
Mühsam sagte er: „Ich begreife das alles nicht, Léonie. Ich verstehe deinen Anruf nicht ... Ich weiss, dass du auf die Scheidung wartest — dass du alles daran setzest, dich von mir zu trennen; ich verstehe nicht, warum du mir plötzlich gute Worte gibst. Was soll diese, Frage, ob ich glücklich bin? Willst du mich verhöhnen, Léonie?“
Plötzlich ernster werdend, antwortete sie:
„Nein. Es ist etwas anderes. Etwas Furchtbares ist geschehen. Sage mir nur eins: hast du mich noch lieb?“
„Ich habe heute die Scheidungsklage erhalten ...“
Einen Augenblick wurde es still im Apparat. Dann sagte Léonie:
„Komm sofort zu mir. Es ist ganz nahe: in der Pension Scalandrini, Ecke der Lichtenstein-Allee. Komm sofort, hörst du?“
„Ich kann nicht, Léonie.“
„Du musst kommen. Alles hängt davon ab. Unser beider Glück steht auf dem Spiel; du musst sofort kommen. Ich erwarte dich.“
Die Zofe stand vor der Tür. Sie hatte verweinte Augen; Kilian sah es mit Verwunderung, während er in das helle Licht des Treppenhauses trat. Léonie wartete schon an der Tür ihres Zimmers, das im ersten Stock lag.
Frischer und schöner als je.
Sie zog ihn ins Zimmer und schloss die Tür behutsam hinter sich.
„Lass dich einmal ansehen ... wie blass du bist, Kilian ... hast du Kummer?“
Er blickte zu Boden. „Warum wolltest du mich sprechen?“
Immer noch sah sie ihm unverwandt ins Gesicht. Langsam ging sie auf ihn zu und griff nach seiner Hand. „Ich hatte das Gefühl, dass heute nacht irgend etwas passieren würde, dass ich keine Zeit verlieren dürfe. Du planst etwas, Kilian.“
„Du sagtest, es sei etwas Furchtbares geschehen.“
„Ja, Kilian. Ein Verrat ist begangen worden. An dir, an mir.“
„Warum hast du auf meine Briefe nicht geantwortet?“
„Das ist es ja eben, warum ich dich sprechen musste. Man wollte uns trennen!“
„Ich verstehe dich noch immer nicht, Léonie.“
„Du hast mir geschrieben, nicht wahr?“
„Jeden zweiten Tag. Dann: jeden Tag.“
„Ich habe keinen dieser Briefe bekommen.“
„Aber das ist ... das ist doch nicht möglich!“
„Du sollst alles wissen. Ein Mann hat sich um mich beworben; er ist mir nachgereist, nach Oberhof. Eben, als wir uns Berlin nähern, fängt Liselotte an zu weinen. Ich denke, es ist die Freude über das Heimkommen. Aber sie weint immer heftiger — und endlich gesteht sie mir: sie hat einen schmählichen Verrat an mir begangen. An uns beiden, Kilian. Auf Anstiften jenes Herrn hat sie deine Briefe unterschlagen.“
„Mein Gott ...!“
„Brief für Brief hat er ihr gegen hohes Trinkgeld abgekauft. Begreifst du mich jetzt, Kilian?“ Sie sah ihm zärtlich in die Augen. „Ich habe doch immer nur gewartet, Tag für Tag. Ich habe gehofft, du würdest mir ein paar Zeilen schicken — nur auf ein freundliches Wort von dir habe ich gewartet. Tag für Tag vergeblich.“
„Warum hast du nicht das erste Wort gesprochen?“
„Immer war ich drauf und dran, es zu tun. Aber: ich war doch die Beleidigte, du musst es einsehen; an; dir war es, das versöhnende Wort zu sprechen. Und schliesslich habe ich mich in den Trotz und in den Hass so hineingewühlt — dass ich gar nicht mehr an das Schreiben dachte. Woche um Woche verging, da musste ich endlich glauben, du habest mich völlig vergessen. Begreifst du das? Aber nun ist alles gut, Kilian. Komm, setz dich. Du zitterst ja vor Müdigkeit, setz dich in diesen Sessel.“
Zögernd liess er sich nieder, unfähig, ein Wort zu erwidern.
„Ich habe mir alles durch den Kopf gehen lassen. Du hattest recht, Kilian, dass du mich nicht nach Amerika lassen wolltest. Ich bin entschlossen, das Angebot von Hollywood auszuschlagen. Oder, wenn du willst: wenn du willst, fahren wir zwei zusammen nach Hollywood!“
Gurlitt fragte mit dumpfer Stimme:
„Wie heisst der Mann, der so gehandelt hat?“
Sie machte eine Handbewegung. „Wir wollen nicht von ihm sprechen. Es soll sein, als ob diese zwei Monate Oberhof nicht gewesen wären. Hörst du, Kilian?“ Sie umschlang ihn mit ihren Armen. „Es soll sein, als ob nie etwas zwischen uns gestanden hätte. Alles soll wieder sein wie früher.“
Er zuckte die Achseln.
„Oder liebst du eine andere?“
Er schüttelte den Kopf.
„Dann ist alles gut, Kilian. Wir werden ein neues Leben beginnen; eine neue Ehe.“ Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete ihn besorgt. „Du musst schlafen, ich sehe es dir an. Hast du dich sehr gegrämt meinetwegen? Geh jetzt, Kilian, schlaf dich gesund, träume von unserer Liebe, von unserer glücklichen Zukunft! Morgen, wenn die Sonne wieder scheint, haben wir alles vergessen, was diese letzte Zeit uns angetan hat. Hörst du, Kilian?“ — — —
Er ging mit müden Schritten auf die nächtliche Strasse hinaus. Das erleuchtete Fenster warf ein helles Rechteck auf den feuchten Asphalt. Er blickte hinauf; oben stand Léonie. Er grüsste; sie stand am Fenster und sah ihm nach, bis ihn das Dunkel der Rauchstrasse aufnahm.
Vermochte ein Mensch von Fleisch und Blut dies alles zu fassen? Diesen jähen Wechsel von der Verzweiflung zum Glück? Blitzschnell glaubte er Gesichter an sich vorüberziehen zu sehen: diesen Holger Harrendorf mit den harten blauen Augen — das lachende Gesicht Costas — den forschenden Blick seiner Freundin Rose — wie war doch alles gewesen ... er hatte einen Vertrag geschlossen, er hatte Geld genommen, viel Geld, ein Vermögen; eine furchtbare Schuld hatte er auf sich genommen, freiwillig sich zu ihr bekannt; der Brief war vielleicht schon unterwegs. Nun, mit einem Schlage, war alles sinnlos geworden: das Glück war zurückgekehrt, alle Wolken waren vertrieben vom Wind des jungen Morgens; nun musste die Sonne aufgehen, nun war alles gut.
Und er hatte sich als ein Mörder bekannt!
Ein Glück nur: er wusste, dass dieser Holger Harrendorf im Hotel Adlon wohnte. Es gab keine andere Möglichkeit, kein Feilschen, kein Paktieren: Harrendorf musste ihm sein Wort zurückgeben! Sein Geständnis wieder ausliefern!
Dann fiel ihm ein: das Geld ... das Geld, das Costa hatte ...
Nun: er würde Costa alles sagen. Er musste begreifen, dass