Gurlitt sah zu Boden. „Ich möchte Sie einen Augenblick sprechen.“
Harrendorf sah sich um. „Dort drüben ist das Schreibzimmer. Es ist leer, glaube ich. Kommen Sie.“
Die beiden traten ein; der Boy knipste das Licht an und zog sich geräuschlos zurück.
„Ich habe mir Ihre Worte von vorhin diese ganze Zeit überlegt“, sagte Gurlitt zögernd. „Ich glaube, dass ... ich weiss zwar nicht, ob Sie Ihr Angebot noch aufrechthalten ...“
„Selbstverständlich. Wenn Sie jemanden wissen, dem eine Freude zu gönnen wäre ...“
Gurlitt nickte. „Ja, Herr Harrendorf. Ich bin einem Freund begegnet. Einem jungen Komponisten. Er ist arm. Er hungert. Mit einem kleinen Vermögen wäre ihm geholfen.“
Der andere fasste nach der Brieftasche. „Sie können den Bettag bestimmen.“ Er zog das Portefeuille und schlug es auf; es war gefüllt mit weissen englischen Banknoten. Harrendorf liess sich in den Sessel nieder, der an dem Doppelschreibtisch stand und wies auf den Stuhl gegenüber. Fast ohne hinzusehen griff er in das Portefeuille und zog mit einer flüchtigen Bewegung eine Anzahl Scheine heraus; dann nahm er ein Kuvert aus dem kleinen Briefständer, faltete die Banknoten hinein und schob Gurlitt den Umschlag hinüber.
Kilian Gurlitt nickte wie in wortlosem Dank und sah erwartungsvoll auf sein Gegenüber.
Harrendorf nahm einen kleinen Oktavbogen aus dem Messinghalter; dann, ihn plötzlich zurücklegend, sagte er:
„Nein. Bitte auf Ihre Visitenkarte.“
Zögernd öffnete Gurlitt die Brieftasche.
„Darf ich Sie bitten, selbst zu schreiben?“
Gurlitt zog den Füllfederhalter und schraubte ihn auf. „Wollen Sie diktieren?“
„Bitte schreiben Sie:
Ich habe den Mord in der Winterthur-Allee 18 begangen: an Stefan Martini. Aus Eifersucht.“
„Aus Eifersucht?“ Der Schreibende hielt inne und schüttelte betroffen den Kopf. „Ich kenne keinen Stefan Martini.“
„Selbstverständlich nicht“; der andere hob begütigend die Hand.
„Und ebensowenig meine Frau.“
Harrendorf lächelte. „Begreifen Sie nicht ...? Ein Motiv ... ein plausibler Grund ... Mir liegt daran, dass mit diesem Brief der Fall abgeschlossen ist ...“
„Wer ist das: Stefan Martini?“
„Er hat mich gehetzt bis zum Zusammenbrechen. Es gab keine andere Lösung.“
Gurlitt blickte in einem seltsamen Zwang auf die Hand des andern, die wuchtig auf der Platte des spiegelnden Tisches lag. Das also war die Hand eines Mörders — diese Hand hatte die Waffe geführt, diese Augen hatten das Zusammenbrechen eines ahnungslosen Opfers gesehen. Als ob jener seine Gedanken erriet, sagte er leise:
„Begreifen Sie jetzt, warum ich Sie schreiben liess: aus Eifersucht? Ich wollte Sie beruhigen. Kein materielles Motiv steht hinter dieser Tat, kein Eigennutz. Nur die Verzweiflung eines Menschen, der sich nicht anders zu helfen wusste.“
Gurlitt sah ihm ins Gesicht. Das dunkle Blau seiner Augen erschien plötzlich glanzlos, die Schläfen waren eingefallen; dieser Mann sprach die Wahrheit.
Er nahm den Halter und unterschrieb mit fester Hand: Kilian Gurlitt.
Das Auto kreuzte die lichtschimmernde Friedrichstrasse und hielt vor einer dunklen Mietskaserne. Das Haus schien im Schlaf der tiefen Nacht zu liegen; nur aus den Fenstern des vierten Stocks, die geöffnet waren, drang Licht, Musik, Stimmengewirr. Die Haustür stand wie gewöhnlich halb offen. Im Dunkel des Torwegs lehnte ein engumschlungenes Pärchen, das sich auch durch das Aufflammen des Zündholzes nicht stören liess. Stolpernd tastete er sich bis zum vierten Stock empor. Ein paarmal musste Gurlitt klingeln. Endlich ging die Tür auf, eine Welle von Gelächter flutete ihm entgegen.
Es waren fremde Gesichter, die ihn empfingen, aber schon kam Rose aus der Küche; Mokkaduft erfüllte den Korridor.
„Doktor!“ rief sie, sichtlich erfreut. „Sie finden den Weg nach der Zimmerstrasse?“
„Ich suchte Euch im Saal; der Kellner sagte mir, Ihr wäret fortgefahren.“
„Kommen Sie herein. Alfons spielt seine Kavatine.“
Er sah sich um. Der Korridor war leer; die andern, junge Bohémiens, hatten sich zurückgezogen. Er fand das Wort nicht recht, nun, da er ihr im hellen Licht gegenüberstand.
„Ich habe etwas für Alfons ...“
„Warum bleiben Sie hier draussen?“
Er sah, dass sie ihm forschend ins Gesicht blickte; mit einem plötzlichen Aufraffen sagte er:
„Ich habe Eile. Der Wagen wartet. Bitte geben Sie ihm dies.“ Damit zog er das pralle Geldkuvert und legte es auf den Spiegeltisch. „Gute Nacht“, er drückte ihr flüchtig die Hand und öffnete die Tür. Während er sie hastig hinter sich zuwarf, sah er, wie Rose, immer noch in unbeweglicher Haltung, ihm nachblickte; deutlich erinnerte er sich, Stufe für Stufe der dunklen Treppe hinuntertastend, ihres verstörten Gesichts.
Die Haustür war noch offen. Er trat auf die Strasse hinaus. Das Klavierspiel oben hatte geendet; er blickte hinauf zu den hellen Fenstern; jemand beugte sich hinaus, es war wohl Costa.
Ja, er war es; eben rief er: „Kilian!“
Aber schon schlug die Wagentür hinter Gurlitt zu.
Nun lag das letzte hinter ihm. Er hatte seinen Preis gefordert; er hatte ihn erhalten, in gutem englischen Gelbe hatte er ihn bekommen. Er hatte dieses Geld, das ihm nicht mehr nützen konnte, ja, das ihm nicht gehörte — denn es war der Preis für seinen Selbstmord — einem andern ausgeliefert, einem, dem trotz allem das Glück seine Gaben bereithielt; nur war nichts mehr zu tun als das eine.
Was sie wohl sprachen in diesem Augenblick, in der Zimmerstrasse? Was für Augen wohl Alfons Costa gemacht hatte beim Anblick des Vermögens, das ihm so plötzlich in den Schoss gefallen war? Wie mochten sie sich die Herkunft des Geldes erklären? Freilich: in Roses Gesicht war ein Ausdruck gewesen, ein wissender, verständnisvoller Ausdruck, der ihn beunruhigt hatte die ganze Zeit. Sie mochte ahnen, was in ihm vorging, was in der Tiefe dieser Nacht Schritt für Schritt auf ihn zukam.
Der Wagen fuhr am Landwehrkanal entlang; dunkel brütete das Wasser zwischen den schweigenden Baumreihen. Der Landwehrkanal: die letzte Zuflucht jener, die keine mehr hatten ... Schon streckte er die Hand aus, um auf den Stoppball zu drücken; aber zögernd liess er sie wieder sinken.
Der Wagen hielt an der Ecke der Corneliusbrücke; erst jetzt erinnerte er sich, dass er es so gewünscht hatte. Er warf den Schlag zu und ging in das Dunkel der Hitzigstrasse hinein. Seltsam, wie schwierig das war — alle Dinge waren auf das Leben gerichtet, kein Platz schien für den, der den entgegengesetzten Weg gehen wollte. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, sahen ihn argwöhnisch an; der Schutzmann dort an der Ecke blickte aufmerksam zu ihm hinüber. Er ging über den Fahrdamm zur Linken, in die Rauchstrasse hinein. Eben bog ein Auto, mit Koffern beladen, um die Ecke, überholte ihn; einen Moment schien es ihm, als ob sich ein Frauengesicht an die Scheibe presse, als ob zwei Augen ihn spähend betrachteten. Aber es musste wohl die Überreizung der Nerven sein, die in allen Spione witterte ...
Hier war sein Haus. Die Stille seines Arbeitszimmers lockte; hier war möglich, was in der lärmenden Nacht dieser Riesenstadt nicht geschehen konnte.
Er knipste das Licht ein und ging die marmorne Treppe hinauf. Nichts im Hause rührte sich; irgendwo in der Ferne schlug ein Hund an. Das Heulen des Windes ging durch die Nacht; plötzlich prasselte Regen gegen die Fensterscheiben. Er schloss die Vorhänge und schaltete die Schreibtischlampe ein.