„Natürlich wissen Sie nicht“, sagte der andere. „Natürlich wissen Sie nicht. Darum eben will ich mit Ihnen sprechen.“
Gurlitt liess die geleerte Austernschale auf den Teller fallen. „Also meinetwegen ...“, sagte er achselzuckend. „Sie gestatten vielleicht, dass ich dabei weiteresse.“
„Bitte.“ Der Fremde sah mit leeren Augen in den Saal hinein, an Gurlitt vorüber; während Gurlitt ihn betrachtete, bemerkte er den traurigen Ausdruck in seinen dunklen Augen. Nein, dieser Mann sah nicht aus wie jemand, der einen Scherz vorhatte.
„Ich weiss“, begann Harrendorf leise; „ich weiss, dass Sie seit zwei Monaten auf die Rückkehr Ihrer Frau warten. Dass Sie vergeblich warten; und ich weiss, dass heute die Scheidungsklage gekommen ist.“
„Das wissen Sie? Und woher ...?“
Der andere hob die Hand. „Nicht wahr, Herr Gurlitt, Sie lieben Ihre Frau? Ich begreife, dass Sie sie lieben. Jeder muss es begreifen. Sie waren sehr glücklich miteinander, nicht wahr?“
„Ja“, sagte Gurlitt, fast ohne es zu wollen.
„Ich habe Ihre Frau im vorigen Jahre im Deutschen Theater in London spielen sehen.“
„Wirklich?“ fragte Kilian, unwillkürlich interessiert. „Wirklich? Aber woher wissen Sie, dass es meine Frau war? Sie führt als Schauspielerin nicht meinen Namen!“
„Sie nennt sich mit ihrem Mädchennamen: Léonie Storm.“
„Ja“, bestätigte Gurlitt immer erstaunter.
„Ich sah sie zweimal: in einem Stück von Molnar und in einem Drama von Ihnen.“
„Sie erhielt auf die Rolle in meinem Stück einen Engagementsantrag nach Hollywood.“
Harrendorf lächelte. „Dieser Engagementsantrag ist, wenn ich nicht irre, der Grund zu Ihrer Scheidung.“
„Auch das ...“, fuhr der Schriftsteller auf.
„Sie waren gegen die Reise nach Hollywood. Gegen das Engagement. Sie verlangten, dass Ihre Frau bei Ihnen bleiben solle. Es kam zu einem furchtbaren Streit. Schliesslich erklärten Sie Ihrer Frau, dass Sie als Ehemann das Bestimmungsrecht hätten — und dass Sie die Erlaubnis für Hollywood einfach verweigerten.“
„Mein Gott!“
„Sie sehen, jede Einzelheit ist richtig. Ich begreife, dass ein Mann, der seine Frau liebt, so handeln kann wie Sie. Dass er zugleich stolz auf ihren Ruhm sein — und dennoch eifersüchtig auf jeden sein kann, der sie auf der Bühne oder im Filmatelier mit seinen Blicken streicheln darf.“
Gurlitt nickte. „Ich kann auch meine Frau begreifen“, sagte er. „Damals konnte ich es vielleicht nicht — heute denke ich immerhin schon ein bisschen anders. Cecil de Mille hat ihr ein Engagement für drei Filme angetragen: der grösste Filmregisseur der Welt! Ich war dagegen — wie man eben dagegen ist, wenn man liebt, gegen alles, sinnlos, ohne Überlegung. Nach jenem furchtbaren Auftritt ist sie abgereist: am nächsten Mittag, als ich heimkam, war sie fort.“
„Und haben Sie nicht versucht, sie umzustimmen?“
Gurlitt machte eine trostlose Handbewegung. „Eine Woche habe ich gewartet. Dann schrieb ich ihr. Einen ausführlichen langen Brief. Ich schrieb ihr, dass alles ein Missverständnis sei — dass ich sie noch liebe, bass ich sie mehr liebe als je — und dass ich sie bitte, meine Worte zu vergessen. Sie antwortete nicht.
Ich wartete drei Tage. Vier Tage. Dann schickte ich ein Telegramm. Auch darauf kam keine Antwort. Dann schrieb ich wieder einen langen Brief — ich bat sie, ich bat sie, Herr Harrendorf: das Engagement nach Hollywood anzunehmen: ich würde getreulich auf sie warten, auf meine berühmte, schöne, begehrte Frau.“
„Und Sie erhielten keine Antwort?“
„Keine.“
„Warum fuhren Sie nicht nach Oberhof?“
„Ich wollte es. Ich meldete ein Telephongespräch an. Die Zofe meiner Frau erklärte mir: die gnädige Frau lehne es ab, mit mir zu sprechen. Ich möge nicht kommen: sie würde sofort abreisen. Jeder Versuch sei von vornherein vergeblich.“
„Das sieht fast aus“, sagte Harrendorf, „als ob ein Dritter ...“
Eben erschien der Kellner; er brachte Sekt und Austern.
„Sie haben recht“, sagte Gurlitt. „Als ob ein Dritter ... Inzwischen habe ich es erfahren: Léonie steht im Begriff, einen andern zu heiraten. Einen reichen Mann. Zu heiraten ... oder, man wusste es nicht genau: oder seine Freundin zu ...“
„Hm. Hm.“
„Noch ein paarmal habe ich versucht, sie umzustimmen. Es gibt kein zärtliches Wort, das ich ihr nicht gesagt hätte; ich habe sie an ihre scheuen und verstohlenen Liebesgeständnisse erinnert, an unsere gemeinsamen Reisen — an unsere gemeinsame Arbeit: die junge Frau des jungen Schriftstellers — war das nicht das schönste Fundament einer glücklichen und sonnigen Ehe? Alles war vergeblich. Alles war in den Wind gesprochen. Léonie hat kein Wort der Verzeihung für mich gefunden. Sie ist in ihren Gedanken wohl längst über mich hinweggeschritten zu jenem Neuen. Er kann ihr das bieten, was ich nicht habe: Reichtum.“
„Ja“, nickte der Fremde. „Reichtum.“
„Ich weiss selbst nicht“ — der Schriftsteller sah mit einem halben Blick zu Harrendorf hinüber; „warum ich das alles so rückhaltlos mit Ihnen bespreche“; der andere machte eine Bewegung mit der Hand; „aber da Sie ohnehin eingeweiht sind ...“
„Ich muss jetzt“, sagte Harrendorf, „von den Dingen der letzten Tage sprechen. Sie glauben die Trennung von Ihrer Frau nicht verwinden zu können.“
Kilian Gurlitt schüttelt den Kopf. Er stützte die Stirn in die Hand. „Nein“, sagte er leise. „Ich kann es nicht überwinden. Ich kann ohne Léonie nicht leben. Alles ist zerstört; ich kann keinen Gedanken mehr fassen; alles ist leer, phantasielos, meine Worte sind ohne Schwung, alle Erfindungsgabe ist versiegt. Und, was das Schlimmste ist: ich habe nicht mehr den Wunsch, dass es anders werden möge. Ich stehe unaufhörlich vor der Frage: für wen sollst du arbeiten?“
„Ja“, sagte Harrendorf. „Und so haben Sie den Entschluss gefasst — sich heute nacht zu erschiessen.“
Gurlitt liess die Hand auf den Tisch niederfallen und blickte hinüber zu Harrendorf, der ihn mit ernsten, tiefen Augen betrachtete. „Was wünschen Sie mir zu sagen, Herr Harrendorf?“
Der andere nahm die Flasche aus dem Eiskübel und füllte die beiden Gläser. „Ich weiss, Herr Gurlitt“, sagte er, „dass Sie nicht zu denen gehören, die mit einem solchen Gedanken spielen. Ich weiss es genau. Sie werden die Tat ausführen. Heute nacht werden Sie es tun.“
„Nun ja.“ Und in plötzlichem Begreifen fragte Gurlitt: „Haben Sie etwa die Absicht, mich daran zu hindern? Dann muss ich Ihnen sagen, dass Ihre Mühe von vornherein vergeblich ist.“
Wieder blickte ihm der andere ins Gesicht. Endlich, nach einer langen stummen Pause, sagte er langsam:
„Ich habe nicht die Absicht, Sie an Ihrem Vorhaben zu hindern.“
Ein wenig verwirrt murmelte Gurlitt: „Dann weiss ich nicht ... dann weiss ich nicht, welchen Zweck diese Unterredung haben soll.“
Der andere, der fast mit einer leisen Verlegenheit zu kämpfen schien, legte sinnend die Serviette zusammen. „Was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Gurlitt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein Vorschlag. Sie können ihn annehmen, Sie können ihn ablehnen; das ist selbstverständlich. Der Vorschlag, den ich Ihnen mache, ist, ich sagte es schon, vielleicht das Ungewöhnlichste, was je ein Mensch einem Menschen gesagt hat. Ja, es ist so ungewöhnlich, dass ich mich schon eines Gleichnisses bedienen muss: Wenn jemand in ein fernes und fremdes Land reist, so geschieht es wohl, dass in dem Augenblick, da das Schiff abgehen will, noch jemand erscheint, ein Fremder vielleicht — um ihm einen