»Ich weiß, Sie haben gute Verbindungen. Im Westen und auch hier bei unseren Behörden. Wenn Sie es sagen, glaube ich es. Ich hatte schon den Plan erwogen, Kaschgar zu verlassen und nach Rußland hinüberzugehen. Weg von hier nach Andischan … oder sonst irgendwohin ins Ferghanatal.«
»Sie weg? … Weg von hier? … Und Ihre Lager? … Millionenwerte … Ihre alte Firma, die Sie in zwanzig Jahren aufgebaut haben … passierte wirklich etwas, käme es zu Verwicklungen, so wäre das alles schutzlos feindlichen Zugriffen preisgegeben. Nein! Das dürfen Sie nicht … Schon Ihrer Tochter wegen nicht, der Sie das Vermögen erhalten müssen …«
»Gerade meiner Tochter wegen, Mr. Cameron. Ich bin ein alter Mann, und wenn man mich hier totschlägt, so … aber um meine Tochter bin ich in Sorge. Sie ist von Riga nach hierher unterwegs. Ich hätte sie warnen sollen … ich möchte sie heute noch warnen … ihr telephonieren, daß sie auf russischem Gebiete bleibt … ich werde auch telephonieren … Maria Feodorowna soll in Andischan warten, bis ich ihr weitere Nachrichten gebe.«
Collin Cameron war den Ausführungen seines Geschäftsfreundes mit unbeweglicher Miene gefolgt. Kein Zucken der ebenmäßigen Züge seines Gesichtes verriet, was hinter seiner Stirn vorging.
»Ich glaube, mein bester Witthusen, Sie sind viel zu ängstlich … so ängstlich geworden, weil Sie hier jahraus, jahrein an dem gleichen Fleck sitzen. Ich komme von England … war auch in Deutschland … Kein Mensch denkt an kriegerische Verwicklungen. Von Ihnen werde ich direkt zum Bürgermeister gehen, ihm meine Aufwartung machen. Wenn der Taotai irgendwelche Befürchtungen hat, wird er es mich wissen lassen. Ich stehe gut mit ihm … seit Jahren. Sie wissen, ich verstehe mich auch darauf, die Glocken etwas früher läuten zu hören als mancher andere.
Morgen gehe ich über Peking–Jokohama nach Frisko. Glauben Sie mir, es ist in den Staaten jetzt ungemütlicher als hier in Kaschgar. Sollte ich beim Taotai irgend etwas hören, gebe ich Ihnen noch Nachricht. Aber Ihre Besorgnisse sind sicherlich unnötig.«
Mit einem Händedruck empfahl sich Collin Cameron, um den Bürgermeister aufzusuchen.
Vor dem Hause wartete sein Kraftwagen auf ihn. Ein kurzer Wink Collin Camerons, und das Fahrzeug setzte sich in Bewegung. Es rollte durch die von alten Platanen eingefaßte Allee am Ufer des Kisil entlang, überschritt den Fluß auf der neuen eisernen Brücke und wand sich durch die engen emporsteigenden Straßen der Stadt, um das hochgelegene Amtsgebäude des Taotai zu erreichen.
Collin Cameron sah nichts von den Schönheiten dieser Fahrt. Seine Gedanken waren bei dem großen Spiel, das jetzt gemischt wurde. Bei dem gewaltigen Spiel, das die Auseinandersetzung der gelben und weißen Rasse bringen mußte.
Er fuhr zum Taotai. Eine Einladung … ja beinahe ein Befehl rief ihn dorthin. Das Blatt knisterte in seiner Tasche. In eben derselben Tasche, auf die er vorher geschlagen hatte, als er zu Theodor Witthusen von den vielen Aufträgen für seine Firma sprach.
Seine Gedanken flogen zurück. Wie lange schon steckte er in diesem Spiel? Er überzählte die Jahre … acht Jahre … neun Jahre. Vor neun Jahren war es, an einem bösen Wintertage. Da waren die Würfel gefallen, die über sein weiteres Leben entschieden. Da war nach Jahren des Kampfes und der Ungewißheit der große Prozeß zu seinen Ungunsten entschieden, der ihm die Lordschaft Lowdale bringen sollte. Das Urteil wies seine Ansprüche ab und brachte ihm Prozeßkosten in einer ungeheuren Höhe.
Damals stand er mit sich und der Welt zerfallen auf dem Londoner Pflaster. An jenem Tage … in ruhigen Momenten spürte er es oft … war er auf die schlimme Seite gefallen. Mit Leib und Seele hatte er sich in seiner Verzweiflung den Gelben verschrieben. Um jenes Tropfens gelben Blutes halber, der ihm die Pairie raubte, war er ein Feind der weißen Rasse geworden. Obwohl sein Fühlen und Denken ganz arisch waren, obwohl er das unwürdige Spiel, zu dem er hier die Hände bot, klar durchschaute.
Das Knistern des Papiers riß ihn aus seinen Gedanken. Er zog es aus der Tasche und entfaltete es. Eine Einladung des Taotai. Mit chinesischen Lettern auf zähes Papier gepinselt. In der blumigen und schwülstigen Sprache des Ostens abgefaßt. Unverfänglich für jeden, der nur den Text las und das unscheinbare Zeichen neben dem Namenszug des Taotai übersah.
Das Zeichen der Schanti-Partei.
Als Kubelai-Khan vor zwanzig Jahren mit stürmender Hand vorbrach, das neue Reich schuf und als Kaiser Schitsu den Thron bestieg, war Toghon-Khan sein bester Feldherr. Jahre des Friedens folgten auf die wilden Erobererzeiten. Seit Jahren saß Toghon-Khan als Vizekönig von Kaschgarien in Dobraja. Ebenso wie der Kaiser hatte er einen chinesischen Namen angenommen. Als Schanti herrschte er unter dem Zepter des Schitsu, wie er als Toghon an der Seite des Kubelai in die Schlachten geritten war.
Viele Augen im Reiche richteten sich auf den klugen und mächtigen Vizekönig, der hier an der westlichen Grenze des Reiches Wache hielt und ein starkes, schlagfertiges Heer unter seinen Fahnen hatte.
Solange Schitsu herrschte, würde Schanti als treuer Paladin stets an seiner Seite stehen. Aber auch der Kaiser war ein Mensch. Auch seiner Herrschaft konnte der Tod ein Ende bereiten, und Schanti hatte seit langem für sich und seine Herrschaft vorgesorgt. In aller Stille und mit jener Geheimhaltung, die nur der ferne Osten kennt, war die große, auf den Namen des Schanti eingeschworene Organisation entstanden. Ein Staat im Staate. Unsichtbar nach außen. Eine furchtbare Waffe in der Hand des Mannes, dessen Namen sie trug und der sie im rechten Augenblick zu gebrauchen wußte.
Collin Cameron blickte auf das winzige Zeichen neben der Unterschrift am Fuße der Einladung und wußte, daß nicht der Taotai, der einfache Bürgermeister, ihn erwartete.
Nun hielt der Wagen vor dem Amtsgebäude. Collin Cameron schritt die Treppe empor. Tief verneigten sich die Diener vor ihm. Lautlos wiesen sie ihm den Weg. Jetzt schob er einen Vorhang zur Seite und sah, daß er recht vermutet hatte. Nicht der Taotai empfing ihn. Er stand vor Wang Ho. Der Generalstabschef der Armee des Schanti war es, der seinen Besuch gefordert hatte.
Wang Ho, der alle Floskeln und Weitläufigkeiten beiseite ließ und scharf und schnell sofort auf sein Ziel lossteuerte.
»Das Berliner Unternehmen, zu dem Sie uns veranlaßten, ist mißlungen.«
Schroffe Abweisung trat auf die Züge des Angeredeten.
»Nicht meine Schuld, Herr General. Ich hatte in meinem Bericht ausdrücklich betont, daß die Hauptpanzer zu sprengen wären. Die Sprengung ist mit ganz unzulänglichen Mitteln unternommen worden. Ich muß die Verantwortung für die Durchführung dieser Unternehmung ablehnen.«
»Auch das Orenburger Unternehmen ist mißlungen!«
Fragend blickte Collin Cameron den Generalstabschef an.
»Es ist mißlungen, Mr. Cameron! Vor fünf Minuten ist der telephonische Bericht eingegangen. Sie hatten uns gemeldet, daß der Oberingenieur Isenbrandt im fahrplanmäßigen Postschiff fährt. Wir haben das Schiff angreifen lassen. Unser Schiff ist von einem Kompagniekreuzer vernichtet worden. Der Oberingenieur ist nicht in dem Postschiff gefahren. Er hat im Gegenteil das Kompagnieschiff kommandiert. Wie erklären Sie Ihren unzutreffenden Bericht?«
Collin Cameron fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Sekunden hindurch verharrte er in nachdenklichem Schweigen.
»Die Meldung kam von einem unserer zuverlässigsten Moskauer Agenten. Der Betreffende hat mit eigenen Augen gesehen, wie der Oberingenieur das Postschiff bestieg, und dann telephoniert …«
»Wie erklären Sie dann, daß er nicht in dem Schiff war? … Wie erklären Sie das plötzliche Auftauchen des Kompagniekreuzers?«
»Erklären? … Es gibt nur eine Erklärung. Ich vermute … ich fürchte, hier hat ein Verräter seine Hände im Spiel.«
»Ein Verräter … dann wird es Ihre Aufgabe sein, ihn zu finden. Ihre Pläne hat er gestört …«
Noch stärker als zuvor machte sich der abweisende Zug in den Mienen Collin Camerons bemerkbar.
»Herr