Cameron griff in die Brusttasche, entfaltete schweigend ein Papier und überreichte es dem General.
Wang Ho hatte seine Mienen in der Gewalt. Kaum merklich war das Zucken seiner Züge, als er die Schriftzeichen überflog. Unwillkürlich neigte er das Haupt, als er die eigenhändige Unterschrift des Schanti erblickte. Mit unbewegter Miene gab er das Papier zurück.
»Sie haben recht, Mr. Cameron. Es geht um größere Dinge.«
Sorgfältig barg Collin Cameron das Papier wieder in der Brieftasche. Ruhig sprach er weiter. Aber die Rollen schienen jetzt vertauscht zu sein. Jetzt war es nicht mehr der General, der inquirierte, sondern Collin Cameron.
»Sie haben die Pläne des Ilidreiecks erhalten, Herr General?«
»Sie sind in meiner Hand. Die Toresani hat sie durch einen zuverlässigen Boten von Andischan an mich geschickt.«
»Die Wichtigkeit wird von Ihnen richtig gewürdigt?«
»Die Wichtigkeit liegt auf der Hand, Mr. Cameron. Die Kompagnie zeichnet Dämme und Schmelzanlagen auf chinesisches Gebiet ein. Voraussetzung dafür ist, daß sie das Gebiet in ihre Gewalt nimmt.«
»Sie wird es tun, Herr General! Sie wird es in kürzester Zeit versuchen. Dann ist der Konflikt da. Der europäische Staatenbund wartet nur auf die entscheidende Meldung aus Peking, um vorzugehen.«
»Der Bund wird uns nicht unvorbereitet finden, Mr. Cameron. Diese Pläne hier geben uns einen guten Grund, unsere Vorbereitungen in großem Maßstabe zu treffen. Wir werden uns jetzt vor jeder Überrumpelung zu schützen wissen.«
»Was werden Sie mit den Ausländern in den Grenzgebieten machen? In Aksu, in Yarkand, in Khotan, auch hier in Kaschgar sitzen zahlreiche europäische Familien.«
»Wir werden sie von heute an überwachen. Sowie es losgeht, schieben wir sie in Konzentrationslager nach dem Innern des Landes ab.«
»Ich habe es nicht anders vermutet. Im bedrohten Grenzgebiet ist die Maßregel berechtigt. Nur in einem besonderen Falle möchte ich selbst den Schutz oder, wenn Sie so wollen, die Aufsicht übernehmen. Meine Firma unterhält freundschaftliche Beziehungen zu dem hiesigen Hause Witthusen. Ich bitte Sie um die nötigen Vollmachten …«
Wang Ho beugte sich über den Tisch und schrieb. Collin Cameron nahm das beschriebene Blatt, trocknete es sorgfältig ab und steckte es zu den übrigen Dokumenten in seine Brieftasche. Eine Order des Generalsstabschefs. Das unscheinbare Blatt legte das Schicksal zweier Menschen bedingungslos in die Hände Collin Camerons.
Der Sergeant, der die Meldung des Barons von Löwen an Georg Isenbrandt überbrachte, vergaß, bei seinem Fortgehen die Tür hinter sich zu schließen. So blieb sie halb offen stehen und gestattete den Freunden, zu sehen und zu hören, was in dem anstoßenden Hotelsaal vor sich ging.
Aus dem Stimmengewirr, das herüberklang, hoben sich deutsche Worte heraus. Eine Frauenstimme war es. Ein junges Mädchen, das mit einem der Platzschaffner, einem deutschen Wolgakolonisten, sprach. Wellington Fox sah ein feines Gesicht von rein deutschem Typ. Lichtblondes Haar umrahmte die schmale Stirn, unter der lichtblaue Augen erglänzten.
Sie beklagte sich über den Ausfall des Schiffes nach Andischan. In diesem Augenblick sprach sie mehr zu sich selbst als zu dem Schaffner.
»Mein Vater erwartet mich. Was wird er sagen, wenn ich ausbleibe? … Er wird in Angst um mich sein … Was soll ich nur tun?«
Der gutmütige Schaffner suchte sie zu trösten. Wie ein Koloß stand seine riesenhafte Figur vor ihrer zarten Gestalt.
»Wir können ja telephonieren. Wohin wollen Sie denn … nach Kaschgar … ein bißchen weit … telephonieren wir doch …«
Wellington Fox wiederholte mechanisch die letzten Worte.
»Nach Kaschgar will sie … wer mag sie sein?«
»Wer mag sie sein …«
Schwer und langsam waren die Worte von den Lippen Georg Isenbrandts gefallen. Wie traumverloren und geistesabwesend saß er auf seinem Stuhl. Wellington Fox wandte ihm halb den Rücken zu, so daß er die plötzliche Veränderung nicht bemerken konnte, die im Wesen seines Freundes vorging. In seiner leichten Weise plauderte er weiter.
»Weißt du, als Ritter ohne Furcht und Tadel sollten wir uns des armen Dinges annehmen. Wir haben den ganzen Luftkahn für uns. Was steht dem im Wege, daß wir sie bis Ferghana mitnehmen … Soll ich zu ihr gehen, es ihr anbieten?«
Er erhielt auf seine Frage keine Antwort und wandte sich um.
»Na! … Georg! Wie denkst du darüber?«
Noch einmal kam die kurze Frage von den Lippen Georg Isenbrandts: »Wer mag sie sein?«
Jetzt wandte Wellington Fox sich ganz um.
»Was hast du denn, Georg … was ist dir?«
Georg Isenbrandt stützte seine Stirn in die Hände.
»Eine Erinnerung … aus schönen, allzu schnell vergangenen Tagen.«
Isenbrandt sprach. Langsam und stockend, als ob ihm die Worte nur schwer von den Lippen wollten:
»… Dieses junge Mädchen … wie ich die Stimme hörte … als ob ich sie hörte … als ich ihre Gestalt sah … als ob ich sie wiedersähe … Maria … Maria Ortwin …! So war sie … Maria Ortwin … so sprach sie … so sah sie aus …«
Wellington Fox versuchte sich die Szene zu erklären. Er wußte von dem kurzen Liebesglück seines Freundes. Lodernde, brennende Liebe … eine Verlobung … ein reiches Glück und dann die jähe Trennung durch den Tod. Aus blühendem Leben wurde Maria Ortwin in wenigen Tagen dahingerafft.
Wellington Fox war damals in den Vereinigten Staaten. Er hatte die verstorbene Braut seines Freundes nie gesehen. Aber er begriff wohl, daß hier eine täuschende Ähnlichkeit obwalten müsse. Eines jener so seltenen Naturspiele, das Ähnlichkeiten der Stimme und des Aussehens bis zum Verwechseln schafft. Er sah, wie sehr Georg Isenbrandt unter dem Eindruck dieser Ähnlichkeit stand, unter ihr litt, von ihr bewegt wurde.
»Ich glaube, Georg, wir tun ein gutes Werk, wenn wir die junge Dame mitnehmen. Soll ich sie auffordern?«
»Ja … wenn sie mit uns fahren will. Sprich du mit ihr.«
Mit großer Geschwindigkeit ging Wellington Fox daran, diesen Auftrag zu vollziehen. Georg Isenbrandt sah, wie sein Freund dienerte, sprach und lachte. Wie das junge Mädchen erst erstaunt und dann erfreut aufsah, ebenfalls lächelte und die Einladung mit Dank annahm. Er sah, wie der ewig muntere und immer gut gelaunte Wellington Fox sofort in flotter Unterhaltung war, und dachte: Wie schwer ist doch dein eigenes Blut. Wie schwer trägst du an allem, was dieser da spielend überwindet …
Und dann stand Wellington Fox bei ihm und machte ihn mit Maria Feodorowna Witthusen bekannt.
»Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie mir die Möglichkeit geben, sofort nach Ferghana weiterzukommen.
»Ich bin glücklich, wenn ich Ihnen diesen Dienst erweisen kann …«
Er stockte und schwieg. Auch das Mädchen schwieg. Eine leichte Röte flutete über ihre Wange. Wie im Traum schritt Georg Isenbrandt an ihrer Seite. Sprunghaft überflogen seine Gedanken die letzten Jahre. Wie im Traum glaubte er an der Seite derjenigen zu schreiten, die er einst so sehr geliebt hatte und die nun schon so lange im Grabe lag.
Zu dritt bestiegen sie den Kompagniekreuzer und nahmen in der reservierten Kabine Platz.
In forcierter Fahrt schoß der Kreuzer über die Hungersteppe dahin. Der alte Name hatte heute nur noch historische Bedeutung. Wo sich früher eine dürftige und trostlose Steppe dehnte, da grünten jetzt üppige Felder. Ein fruchtbarer Boden war es, der unter den warmen, gleichmäßig über das ganze Jahr verteilten Regengüssen hier reiche Ernten gab.
Zu dritt betrachteten sie das herrliche Landschaftsbild.
Maria Feodorowna,