Mit einem Satz stand der Wachthabende an der Morsetaste. Mechanisch hämmerten seine Finger das S. O., S. O., den internationalen Notruf, und tick tick tick, tä tä tä schrie die Station des angegriffenen Schiffes den Ruf in alle Winde.
Jetzt galt es, und jetzt war alle Unschlüssigkeit vom Kommandanten gewichen. Er selbst stand am Steuer und gebot durch den Maschinentelegraphen den Turbinen die Hergabe der höchsten Leistung.
Nach Orenburg war nicht mehr zu gelangen. Aber nach Norden abweichen … etwa noch Ufa erreichen, irgendwo im Schutze menschlicher Ansiedlungen notlanden … Bis dahin aber von den immer häufiger fliegenden Schrapnellen nicht getroffen werden … das blieb die letzte Möglichkeit einer Rettung.
Zickzackfahren, den Kurs so schnell und so sprunghaft ändern, daß die da drüben mit ihrem Schießen immer zu spät kommen mußten … daß nur Zufallstreffer dem eigenen Schiff gefährlich werden konnten … Zeit gewinnen … Raum gewinnen … dem Gegner den Wind abgewinnen!
Fieberhaft arbeitete das Gehirn des Kommandanten, während er sein Schiff in wilden und immer wilderen Zickzacklinien durch den Äther führte.
Immer noch hieb der Wachthabende auf der Morsetaste das Notzeichen S. O., S. O. in den Raum. Der Kommandant sah es in einem ruhigen Moment, als das schwere Schiff, jäh durch eine Kurve gerissen und schief gelegt, sich allmählich wieder aufrichtete.
»Gehen Sie zu den Passagieren! Die Leute müssen bei dem Wenden und Schlingern außer Rand und Band kommen … Gehen Sie schnell in den Salon und beruhigen Sie die Passagiere … irgendwie! … Mit irgend etwas! … Erfinden Sie Ausreden! … Erzählen Sie den Leuten, was Sie wollen … aber halten Sie mir die Passagiere bei Vernunft …«
Der Wachthabende ging, den Auftrag des Kommandanten zu erfüllen. Der Kommandant aber gab sich ganz der immer schwieriger werdenden Aufgabe hin, sein Schiff dem Feuer eines Gegners zu entziehen, der, an Schnelligkeit zweifellos überlegen, von einem unerschütterlichen Vernichtungswillen beseelt zu sein schien. Er versuchte es im Gefühl seiner Verantwortlichkeit, versuchte es, weil ihm ein anderes Mittel als seine Steuerkunst nicht zur Verfügung stand. Aber er sah den Untergang seines Schiffes unabwendbar vor Augen, wenn kein Wunder geschah.
Wellington Fox kam von seinem Rundgang durch die Maschinenräume des Kompagnieschiffes wieder in die Zentrale zurück.
»Alle Wetter, Georg! Meine Hochachtung vor der Chartered Company und ihren Schiffen …
»E. S. Kompagnie!« verbesserte Isenbrandt. »Nicht Chartered Company! Der Name hat einen schlechten Klang in der Geschichte. Europäische Siedlungsgesellschaft, bitte.«
»Meinetwegen! Aber es kommt doch auf was Ähnliches heraus. Eure Gesellschaft ist mit staatlichen Hoheitsrechten ausgestattet, hält auf eigene Rechnung Soldaten und … wird vielleicht eines Tages Krieg führen … auf eigene Rechnung.«
»Laß, Fox! Deine Vergleiche hinken zu stark!«
»Na! Jedenfalls gibt diese Fahrt mir Stoff für einen guten Bericht nach Chikago. Etwa so … Beim Streifkommando der E. S. C. … mit dem schnellsten Schiff der Kompagnie von Europa nach Asien … Die Streitkräfte der Kompagnie … Eine wirksame Sache wird das … Fehlt nur noch ein regelrechtes Abenteuer.«
Georg Isenbrandt saß bequem in einem Korbsessel und verfolgte mit sachkundigen Blicken das Zeigerspiel der mannigfachen Apparate in der Zentrale, während er ab und zu halblaute Worte mit dem Kommandanten des Schiffes, dem baltischen Baron von Löwen, wechselte.
Der Kommandant und der wachthabende Offizier trugen schmucke Uniformen militärischen Schnitts, wie sie in ähnlicher Art nur bei den stehenden Heeren der Staaten zu finden waren. An den Mützen bei beiden ein eigenartiges Wappen mit den verschlungenen Buchstaben der E. S. C. Militärisch waren die Uniformen der beiden Offiziere, militärisch auch ihre Haltung und Sprachweise ebenso wie diejenige der Unteroffiziere und Maschinisten, die gelegentlich mit einer Meldung in den Raum kamen.
Nach den wenigen Worten, die er mit dem Baron von Löwen wechselte, konnte kein Zweifel bleiben, daß das Kompagnieschiff unter dem Befehl Isenbrandts stand.
Wellington Fox sprach weiter:
»Mein Kompliment, Herr von Löwen! Ich kenne unsere amerikanischen Kreuzer … Ich kann beurteilen, was ich hier gesehen habe … Die Maschinen … vorzüglich … Ihre Ausrüstung … unübertrefflich. Sie müssen bei forcierter Fahrt siebenhundert Kilometer in der Stunde hinter sich bringen …«
Georg Isenbrandt und Archibald Wellington Fox waren seit zwanzig Jahren eng befreundet. Ihre Freundschaft datierte schon aus der Zeit, in der beide noch in Deutschland auf derselben Schulbank saßen. Aus einer Zeit, in der Archibald Wellington Fox noch auf gut deutsch August Wilhelm Fuchs hieß.
Das Leben hatte die beiden Schulfreunde später getrennt. Walter Isenbrandt hatte in Deutschland als Assistent des Professors Frowein an der Verbesserung des Dynotherms mitgearbeitet. Jenes künstlich hergestellten radioaktiven Stoffes, der in seinen letzten Auswirkungen zur Gründung der großen europäischen Siedlungsgesellschaft geführt hatte.
Wellington Fox war eines Tages in den Vereinigten Staaten gelandet. Leute, die ihm vielleicht nicht wohl wollten, behaupteten, es habe damals hinter ihm merklich nach verbrannten Schiffen gerochen. Jedenfalls war er im Hexenkessel des amerikanischen Lebens nicht untergegangen und heute der angesehene und hochbezahlte Korrespondent der Chikago-Preß für die Dinge in Asien.
Fox wandte sich wieder an den Kapitän.
»Ein wunderbares Schiff, Herr von Löwen. Es muß Freude machen, so etwas zu führen.«
»Gewiß, Mr. Fox. Es macht mir Freude, einen der schnellsten Kreuzer der Company zu führen. Aber der Dienst wird auf die Dauer eintönig. Es passiert nichts Aufregendes mehr, seitdem wir die neue Flotte haben.
Wir patrouillieren vom Balkasch bis zum Altai. Tagein, tagaus der gleiche Dienst. Es passiert nichts mehr. Die Zeiten der guten alten Lufträuberromantik sind dahin. Vor zehn Jahren kam es noch öfters vor, daß die Postschiffe zwischen dem Aral- und Balkaschsee über der Hungersteppe überfallen wurden. Damals mußten Postschiffe mit größeren Werttransporten noch im Konvoi fahren. Heute ist das längst vorbei … und ich möchte auch keinem dazu raten. Unsere Kreuzer würden den Spaß schnell verderben … Es ist jetzt viel sicherer, aber, unter uns gesagt, auch viel langweiliger.«
Ein leichtes Lächeln zog über die Züge Georg Isen»Brandts, während er die grauen Augen einen Moment auf dem Kommandanten ruhen ließ.
»Es wäre nicht ganz ausgeschlossen, Herr von Löwen, daß der heutige Tag eine kleine Abwechslung in Ihren Dienst bringt.«
Der Kommandant sah ihn einen Augenblick erstaunt, fragend an.
Mit einem leicht hingeworfenen, gleichgültig klingenden »Oh …« tat Isenbrandt die unausgesprochene Frage ab.
Herr von Löwen sprach weiter: »Hm … Es war mir schon eine angenehme Abwechslung, Herr Isenbrandt, als ich den Befehl bekam, in forcierter Fahrt nach Moskau zu gehen und Sie an Bord zu nehmen.«
Isenbrandt zog seine Uhr.
»Das Postschiff Nummer achtzehn muß in fünfundvierzig Minuten in Orenburg landen. Wie stehen wir?«
Der Kommandant beugte sich über die Karte, auf der das Besteck der Fahrt vom Log fortlaufend und selbsttätig aufgetragen wurde.
»Wir stehen zwanzig Kilometer hinter Nummer achtzehn.«
»Halten Sie den Abstand bis Orenburg, wenn nicht …«
Das Wellentelephon schlug an. Scharf und abgehackt kamen die Morsezeichen.
»Nummer achtzehn, tick tick tick, tä tä tä, tick tick tick, tä tä tä …«
Herr von Löwen