»Amerika den weißen Amerikanern! … Das schwarze Volk gehört nach Afrika, von wo es hergekommen ist … Sie wollten auch hin … Sie wollten wieder zurück … warum hat unsere Regierung die Bewegung nicht unterstützt. Warum haben wir sie bei uns behalten. Arbeiterfrage natürlich … kurzsichtiger Kapitalismus!«
Georg Isenbrandt unterbrach den zornigen Amerikaner. Das Schiff stand jetzt über Perowsk und folgte eine größere Strecke dem vielfach gewundenen Lauf des Sir Darja.
Isenbrandt deutete in die Tiefe, wo der breite, grüne Strom deutlich zu sehen war.
»Jetzt sind wir am Sir, am alten Iaxartes. Bis hierhin ist der große Alexander auf seinen Eroberungzügen vorgedrungen. Hier mußte er wieder umkehren und hinterließ keine Spur von seinen Taten. Wir sind weitergekommen. Fünfhundert Meilen weiter nach Osten. Wir schmelzen und dampfen bis in das Himmelsgebirge. Wir schaffen Neuland für Hunderte von Millionen Menschen. Unsere Arbeit lohnt sich … Die Hochalpen brennen, aber die Ebene wird fruchtbar …«
Maria Feodorowna spann seinen Gedankengang weiter:
»Ein gewaltiges Werk! Doch die Gelben sehen es nicht gern. Ich höre, wie sie bei uns in Kaschgar darüber sprechen. Fremde Teufeleien, die dem Gelben und dem Blauen Fluß das Wasser nehmen. Seitdem die Berge um Kaschgar dampfen, sieht man uns scheel an … Vielleicht müssen wir eines Tages den Ort verlassen, an dem wir seit zwanzig Jahren wohnen.«
Prüfend ruhte der Blick Georg Isenbrandts auf den Zügen der Sprecherin.
»Der Tag kann schneller kommen, als Sie denken. Ich werde Sie warnen. Versprechen Sie mir, meiner Warnung zu folgen …«
Maria Feodorowna streckte dem Reisegefährten die Rechte entgegen. Ihre Blicke trafen sich und hingen sekundenlang aneinander.
»Ich danke Ihnen, Herr Isenbrandt!«
Der Kreuzer hatte jetzt den Stromlauf verlassen. Während der Fluß einen weiten Bogen nach dem Süden schlug, verfolgte er den Südostkurs, überflog die Alpen bei Chotkal und stand jetzt schon dicht vor Andischan. Es wurde Zeit, an den Abschied zu denken.
Auf dem Hangar neben dem Endbahnhof der Strecke Andischan–Osch–Kaschgar landete das Kompagnieschiff.
Erst die Technik des Dynotherms hatte es ermöglicht, in kurzer Zeit und mit geringen Baukosten den großen Tunnel durch das gewaltige Terekmassiv zu bohren und die neue Linie bis Kaschgar durchzuführen.
Georg Isenbrandt und Wellington Fox begleiteten Maria Witthusen zum Zug. Sie standen dort, bis das Abfahrtszeichen gegeben wurde und der Zug sich in Bewegung setzte. Wellington Fox zog ein seidenes Tuch und winkte. Georg Isenbrandt sprang mit plötzlichem Entschluß auf das Trittbrett des rollenden Zuges. Er beugte sich zu Maria Feodorowna, flüsterte ihr wenige Worte zu und war mit einem Sprunge wieder neben seinem Freunde. Dort stand er und blickte dem ausfahrenden Zuge noch lange nach.
Der Knall des Schusses, der den Kaiser des Himmlischen Reiches auf das Schmerzenslager warf, war bis in die letzten Erdenwinkel gedrungen. Immer noch, bald schwächer, bald stärker, hallte sein Echo wider. Millionen Herzen erbebten … bebten … wie immer, wenn das Schicksal einen ganz Großen unter den Menschen traf, von dessen Sein oder Nichtsein dasjenige von Millionen Kleiner abhing. Und je länger die Zeit des Wartens, desto unerträglicher wurde die Spannung.
Wann endlich Gewißheit? Würde er sterben … der Große, oder leben bleiben und sein großes Werk vollenden?
Die Bulletins der Ärzte waren dunkel wie die Sprüche des delphischen Orakels. Ein dreifaches enges Gitter von Bajonetten umgab jetzt, nachdem das Unheil geschehen war, die Anlagen von Schehol, dem chinesischen Sanssouci.
Wie alljährlich, hatte sich der Herrscher auch diesmal zu Wintersausgang nach Schehol begeben, um hier Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte zu suchen. Hier, wo die strenge Bewachung seiner Person nicht so scharf wie in Peking durchgeführt wurde, hatte ihn die Kugel eines als Jägerbursche verkleideten Republikaners getroffen.
Der Schuß war tödlich. So lautete der Bericht der Ärzte für die wenigen Vertrauten der nächsten Umgebung. Aber die Lage des Reiches verbot eine Veröffentlichung dieses Berichtes.
Kaum zwanzig Jahre waren vergangen, seitdem der junge, tatkräftige Mongolengeneral Kubelai die Herrschaft des Riesenreiches an sich gerissen hatte. Bis dahin war China eine Republik, deren beste Kräfte durch nie zur Ruhe kommende Wirren aufgezehrt wurden. Eine Riesenfarm, die von den Völkern des Abendlandes nach Möglichkeit ausgenutzt wurde.
Auf schneller, blutiger Bahn war der Mongolenkhan an die Spitze des Riesenreiches geeilt, alles niederwerfend, was sich ihm in den Weg stellte. Dann hatte er das Spiel gespielt, das von jeher jedem Usurpator geläufig war. Um seine Herrschaft zu festigen, wurde das chinesische Nationalbewußtsein mit allen Mitteln einer geschickten Diplomatie aufgepeitscht, bis alle Augen gegen den äußeren Feind gerichtet waren.
Und wieder hatte ihm das Glück zur Seite gestanden. In zähem Ringen hatte er den Europäern eine Position nach der anderen entrissen, bis er das Land von den »Bedrückern«, den »Blutsaugern« befreit hatte. In der kurzen Zeit von zehn Jahren hatte er dieses Ziel erreicht. Mit der gleichen Energie und Tatkraft widmete er sich dann dem Ausbau der inneren wirtschaftlichen Kräfte seines Landes. Wohl schufen ihm die Reformen, die er ohne Rücksicht auf die alten Sitten und Gewohnheiten durchführte, viele Gegner. Doch die mußten sich beugen, und in einem halben Menschenalter war ein Werk vollbracht, um das führende Geister sich jahrhundertelang vergeblich bemühten, das Kenner des Landes für unmöglich gehalten hatten.
Mit seinen Erfolgen wuchs sein Ehrgeiz ins Unermeßliche. Träume wurden in rastloser Gehirnarbeit geformt, bis sie als erreichbare Möglichkeiten vor seinem Auge standen, und dann schuf er die Pläne zu ihrer Verwirklichung.
Schon bevor die Europäische Siedlungsgesellschaft ihre Tätigkeit in Turkestan begann, hatte sich sein Auge auf diese Gebiete gerichtet, die ja größtenteils von mongolischen Brüdern bewohnt waren. Doch damals schien ihm der mögliche Gewinn den Preis der hohen Opfer nicht wert.
Erst als die Pläne der Siedlungsgesellschaft bekannt wurden, Pläne, die dort ein großes, weißes Kulturland zu schaffen versprachen, erschienen ihm jene Länder begehrenswert. Um so begehrenswerter, je größer die Erfolge der Siedlungsgesellschaft wurden.
Ein neues Schlagwort war bald gefunden: Panmongolismus! Vereinigung aller Gelben mit dem großen Himmlischen Reich. Schnell wurde es aufgenommen. Bald war eine rege Irredenta in den bis dahin politisch völlig indifferenten Gegenden im Gange.
Die gelben Emissionäre fanden einen Boden, dessen Bearbeitung ihnen die Siedlungsgesellschaft selbst notgedrungen sehr erleichterte. Da die dort ansässigen mongolischen Stämme durch die europäischen Siedler in ihrer Nomadenwirtschaft gehindert oder gar verdrängt wurden, gab es Unzufriedene genug. Die öffentliche Meinung Chinas forderte täglich mehr oder weniger laut das Vorgehen der Regierung. Das diplomatische Spiel hatte bereits begonnen, zum mindesten waren die Karten dazu gemischt … da krachte der verhängnisvolle Schuß.
Über den Gärten von Schehol lag eine milde Frühlingssonne. Sie vergoldete die Mauern der Schlösser und Tempel und ließ deren glasierte Ziegel in allen Farben erglänzen.
Auf einer weiten Dachterrasse des Palastes, deren Rand mit blühenden Kirschbäumen in großen Bronzekübeln besetzt war, stand das niedere Lager, auf dem der Kaiser ruhte. Auf den weißen Seidenkissen wirkte das Antlitz, nur von unten her ein wenig von dem Blutrot der Seidendecke angestrahlt, wie das eines Toten. Die Stirn des Kranken war kahl, steil und gefurcht wie ein zerhauener Helm.
Die Blicke des Kaisers hingen starr am Horizont. Dort hinten … hinter den Schneegipfeln des Thian-Schan lag das Reich seiner Feinde, der Westländischen.
Lebensgier und Drang des Lebendigen zerrten an ihm. Für China leben … leben für die Flut der Aufgaben, die ihn ein halbes Menschenalter bedrängt hatten, die zu erfüllen ihm jetzt nur noch Stunden blieben. Noch klammerte er sich mit schwachen Händen an das Strauchwerk, schon unter