Die Hände tief in den Taschen seines Mantels verborgen, ging Wellington Fox auf der gegenüberliegenden Seite der Straße vor der chinesischen Botschaft auf und ab. Der feine kalte Regen schien seiner offenbar recht guten Stimmung keinen Abbruch zu tun.
»Hab’ ich dich doch endlich, mein Freund«, kam es im Selbstgespräch von seinen Lippen. »Zwar nicht in meinen Fäusten, in denen ich dich gern hätte. Aber deine Schliche kenne ich jetzt … und die sind schlimmer, als ich dachte. Georg wird Augen machen, wenn ich ihm schneller als die liebe Polizei volle Aufklärung über den Täter gebe. Es dürfte jetzt auch Zeit sein, Isenbrandt etwas von meinen Beobachtungen in den Staaten zu erzählen … und von der Rolle, die der Bursche da spielt. Isenbrandt! Isenbrandt! Du spielst ein größeres Spiel, als du ahnst … Hier ist meine Arbeit für heute zu Ende.«
Er wollte sich eben dem Innern der Stadt zuwenden, als das plötzliche Halten eines Autos vor der Botschaft ihn noch einmal stillstehen ließ. Er kniff die Augen zusammen, um in der unsicheren Beleuchtung besser zu sehen.
Eine Dame, deren hoher Wuchs die Europäerin verriet, verließ den Wagen und schritt, von einem grauhaarigen Diener begleitet, durch den Vorgarten in das Haus. Mit einem Umwege begab sich Wellington Fox noch einmal auf den Bürgersteig vor der Botschaft. Als er den Wagen erreichte, kam die Besucherin mit ihrem Diener bereits wieder aus dem Gebäude. Ein dichter Schleier verbarg ihre Züge. Aber Wellington Fox starrte den beiden nach und starrte noch, als das Auto längst verschwunden war.
»Hallo! Was war das? Werden deine Augen schwach, Wellington? Vor einer Minute hätte ich noch geschworen, daß der Diener ein alter, grauhaariger Bursche war. Und jetzt hatte er schwarzes Haar. So schwarz wie deines, mein Freund Collin Cameron. Lauf, Bursche! Wir treffen uns wieder.«
Der Präsident Dr. Reinhardt sprach in der Direktoriumssitzung der Europäischen Siedlungsgesellschaft: »… über die wirtschaftlichen und technischen Erfolge im letzten Jahre gibt der Bericht des Aufsichtsrates der Gesellschaft ein anschauliches und erfreuliches Bild. Sie kennen ihn ja alle. Ich möchte nur die wichtigsten Punkte hervorheben. Die Schmelzarbeiten haben mit 3,6 Milliarden Kubikmeter Wasser die Ziffer des Vorjahres um 600 Millionen übertroffen. Die Zahl der europäischen Siedler auf unseren Gebieten hat sich, die russischen nicht miteingerechnet, um 200 000 vermehrt, die auf etwa 50 000 Quadratkilometer Neuland angesetzt sind. Auf das Gesellschaftskapital von einer Milliarde Pfund Sterling wird eine Dividende von 6 Prozent in Aussicht gestellt. Die Börse bewertete unsere Aktien schon seit dem Bekanntwerden des neuen Dynotherms nach dem Verfahren unseres Herrn Isenbrandt mit 150 Prozent des Nennwertes. Sie können an Ihre Staaten nur Erfreuliches berichten.
Die Aussichten für die Zukunft sind ebenfalls günstig. Ich sage nicht ›sehr günstig‹, denn ein voller Erfolg könnte unseren Arbeiten nur beschieden sein, wenn wir auch im Quellsystem der Flüsse schmelzen dürften, die im chinesischen Ilidreieck entspringen und in unserem Gebiet münden. Ich berühre hier eine heikle Frage, über die Herr Isenbrandt ihnen näheren Vortrag halten wird. Herr Isenbrandt hat das Wort.«
Als dieser sich erhob, füllte sich der Raum mit Spannung. Man wußte, daß jetzt etwas kam.
»Meine Herren! Ich will nur ganz kurz auf die heutigen gewaltsamen Anschläge auf unsere Tresore zurückkommen, um ihnen zu sagen: Das war gelbe Arbeit. Der Raub der Analysen und Synthesen des neuen Dynotherms ist mißlungen. Der Vorfall zeigt aber, wie gut es ist, daß wir die Fabrikation des neuen Dynotherms nicht wie die der alten Präparate im Uralgebirge bewerkstelligen, sondern nach den mitteleuropäischen Gebirgen verlegt haben. Der längere Transportweg wird durch die viel geringeren benötigten Mengen reichlich aufgewogen.
Der zweite Anschlag ist leider gelungen. Die Pläne für die Besetzung und Bearbeitung des chinesischen Iligebietes sind fort … in chinesischen Händen. Diplomatische Verwicklungen sind ja nicht zu befürchten, da die Gelben daraufhin keine Vorstellungen machen können. Aber das Beste daran, die Überraschung, ist verloren. Wir würden also gegebenenfalls einen vorbereiteten Gegner finden.
Und doch …!« Die Gestalt des Sprechers straffte sich. Seine Mienen schienen gewandelt. Das waren nicht mehr die Züge eines Gelehrten und Erfinders. Die Augen eines großen Kriegsmannes waren es, die einen Kampf um Sein oder Nichtsein mit einem übermächtigen Gegner schauen. Die schmalen Lippen fest zusammengepreßt, die Rechte auf der Tischplatte zur Faust geballt, so stand er da in sekundenlangem Schweigen.
»Und doch …!« Wie eine Fanfare hatten die Worte durch den Saal geklungen und jedes Ohr aufhorchen gemacht.
»Wir müssen das Ilidreieck haben!«
»Right or Wrong!« nickte der Vertreter Englands.
»Keinen Krieg!« Der Russe rief es und sprang erregt auf.
»Wir sind als nächste Nachbarn des Gelben Reiches am besten über die Machtverhältnisse informiert. Wollen Sie die blühenden Fluren Turkestans in Wüsten und Ruinen verwandelt sehen? Soll die Arbeit eines Dezenniums umsonst gewesen sein?«
Lebhaftes Stimmengewirr erfüllte den Saal. Die Meinungen waren geteilt. In erregtem Für und Wider platzten die Ansichten aufeinander. Gelassen schaute Isenbrandt eine Weile auf die erregten Gruppen. Dann erhob er seine Stimme von neuem:
»Um diese Gefahren zu vermeiden, machte ich meinen Vorschlag. Ich will jetzt nicht von unseren Arbeiten sprechen, die ohne das Ilidreieck nicht zur vollen Auswirkung gelangen können. Ich will mich auch nicht auf die Tatsache stützen, daß das Land vor 150 Jahren schon einmal russischer Besitz war. Daß es Rußland in einer Zwangslage entrissen wurde. Ein Blick auf die Karte hier an der Wand müßte genügen, um Sie von der Notwendigkeit zu überzeugen, daß das Iligebiet unser wird.«
Er war an die Karte herangetreten.
»Sie sehen, wie hier vom Pamirplateau aus nördlich ziehend das Alaigebirge und anschließend der Thian-Schan die Grenze gegen China bilden. Da springt auf dem 80. Längengrad die Grenze plötzlich vom Gebirgskamm ab und geht über das offene Ilital nach Norden, statt naturgemäß auf dem Gebirgskamm zu bleiben.
Was ist die Folge davon? Die Gelben haben hier ein Glacis, das eine ständige Drohung für uns ist. Dessen ist sich China wohlbewußt. Das an sich kleine, mäßig fruchtbare Gebiet bietet wirtschaftlich für das große Himmlische Reich kein Interesse. Aber als Ausfallspforte gegen den Westen ist es von höchster Bedeutung.
Die gelbe Gefahr ist noch im Werden. Sie verkörpert sich nicht nur in der Person des großen Kaisers Schitsu. Stirbt er, wird ein anderer kommen, früher oder später, unter dem sich die Entwicklung fortsetzen wird. Der Kaiser ist nur ein Exponent bei Verhältnisse, die sich in jedem Fall durchsetzen. Nicht um Augenblickspolitik wollen wir handeln. Auf Menschenalter müssen wir uns sichern.«
Georg Isenbrandt hatte geendet. Wiederum begann eine lebhafte, von vielen Stimmen gleichzeitig geführte Debatte. Nicht wenige waren es, die zu Isenbrandt hintraten und ihm zustimmend die Hand schüttelten. Bis der Präsident sich Gehör verschaffte.
»Meine Herren, wir werden morgen um dieselbe Zeit wieder zusammenkommen, um über das heute Besprochene abzustimmen. Sie haben vierundzwanzig Stunden Zeit, um sich von ihren Regierungen die letzten Informationen zu holen.«
Die Strahlen der Aprilsonne vergoldeten die Kuppeln von Orenburg und ließen sie aufleuchten und schimmern wie einst vor einem Vierteljahrtausend, als der Befehl der Kaiserin Elisabeth hier die Grenzburg gegen die Stämme Asiens entstehen ließ. Die Sonnenstrahlen überfluteten das Bahnhofsgebäude und spielten und glitzerten in tausend Reflexen in den gewaltigen Eisenkonstruktionen des großen Postflughafens neben dem Bahnhof.
Zur Höhe von zweihundert Meter reckten sich die stählernen Bauten. Wie seine Filigranarbeit stand ihr Fachwerk in der sichtigen Frühlingsluft. Nur bei der Betrachtung aus der Nähe sah man, daß gigantische Stahlträger die einzelnen Maschen dieses Netzwerkes bildeten. Eines Fachwerkes, das stark genug war, um in schwindelnder Höhe noch die schweren Plattformen zur Aufnahme der großen Flugschiffe zu tragen.
Jetzt war der Flugplatz leer. Verlassen standen die riesigen Landungsanlagen. Scheinbar unbewohnt lag das Posthotel inmitten der parkartigen Gartenanlagen. Langsam