Der Kapitän war starr. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« stammelte er.
»›Abraham Lincoln‹ von Valparaiso nach New York? Kapitän Frederik White?«
Der bejahte.
»Der Kapitän ist mein Gefangener! Schiffsliste! Tresorschlüssel!
Passagiere und Mannschaft unter Deck!«
Kaum kam das Wort von seinen Lippen, waren die Decks wie reingefegt.
»Maschinengewehre an ihre Posten!«
In Minuten waren alle wichtigen Punkte des Schiffes besetzt. »Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Kapitän!«
Der Piratenführer setzte sich auf einen Deckstuhl, zog einen anderen heran, den Kapitän einladend. Der folgte der Aufforderung. Kaum daß seine zitternden Knie ihn noch aufrecht hielten.
»Unmöglich! Unmöglich!«
Immer wieder kam das von seinen Lippen. Er konnte und wollte nicht begreifen, was geschah. Verstand auch nicht, was der Mann mit ihm sprach, ihn fragte. Der Unterführer kam melden. In der einen Hand ein Schriftstück über die Depositen, mit der anderen auf einen Sack deutend, den zwei Leute seiner Mannschaft heranschleppten.
»Zwei Millionen Dollar … etwas darüber noch!«
»Gut! Sehr gut! Doch das andere? Wie ist’s damit?«
»Schon besorgt!«
»Schon besorgt?«
»Jawohl! Im Boot!«
»Ah! Das ging schnell!«
Der Piratenoffizier erhob sich, wandte sich an den Kapitän.
»Ich bedaure sehr, Sie inkommodiert zu haben. Die Störung, Sie werden es selbst zugeben, war nur geringfügig. Freie Fahrt, Herr Kapitän!«
Mit ein paar Sprüngen war er am Fallreep und von Bord.
»Freie Fahrt voraus!« schrie er aus dem Boot.
»Freie Fahrt voraus!« echote es zögernd von der Kommandobrücke der »Abraham Lincoln«.
Die Schrauben liefen an. Der Riesenrumpf kam in Fahrt. Von unten her kamen sie an Deck … Mannschaften … Passagiere.
»Kurs Nord zu Nordost!« gab der Wachoffizier das Kommando.
Der Bug drehte auf den alten Kurs.
»Gerettet! Gerettet … Seeräuber an Bord? Was? Was ist geschehen?
Wo sind sie?«
Ein unbeschreibliches Gewirr von Fragen, Rufen in allen Sprachen der Welt. Der Lärm drang bis zur Brücke, hinauf zum Kapitän. Der stand immer noch verwirrt, fuhr sich mit der Hand an den Kopf. Fast hätte er geschrieen: »Unmöglich!« Doch ein Blick … Hart Steuerbord … da!
Eben noch das Periskop der Seeräuber … tauchend … verschwindend.
Da! Die blassen, verstörten Gesichter der Mannschaften, der Passagiere.
Tausend Hände auf den fliehenden Feind deutend.
Die Stimme des Ersten Offiziers riß ihn aus seiner Verwirrung.
»Die Tresore sind beraubt! Die Passagierlisten … wären sie nicht nachzuprüfen?« Der Kapitän nickte.
»Nachprüfen? Jawohl! Prüfen Sie nach!«
»Der Sender ist in Ordnung gebracht!« meldete ihm der Zweite Offizier.
»Funken Sie … funken Sie!« Der Kapitän kam ins Stocken. »Sie wissen’s ja! Sie haben’s ja erlebt! … Funken Sie!«
Der Offizier gab die Nachricht … Antworten kamen von hier und von da. Die wichtigste: Amerikanische U-Boote auf der Fahrt von Kingston aus zur Verfolgung des Räubers angesetzt.
Meldung vom Ersten Offizier.
»Alle Mannschaften und Passagiere wohlbehalten an Bord. Passagier Christie Harlessen, kommend von Valparaiso, zur Zeit nicht auffindbar.«
Der Kapitän hörte es, las und nickte. Gott sei Dank – kein Menschenleben in Gefahr, wie es schien. Christie Harlessen, Kontoristin aus New York, Raub nicht anzunehmen … völlig ausgeschlossen!
Eine Milliardärstochter, das wäre was anderes. Eine Kontoristin?
Ausgeschlossen! Wer weiß, wo die sich in ihrer Angst verkrochen hat … im tiefsten Raum des Schiffes … Die wird sich schon wieder einfinden.
Mit einem erleichterten Aufatmen ging der Kapitän von der Brücke.
Die Nacht war da. Kein Abendkonzert, kein Bai pare. Die Gesellschaftsräume öde und leer. Kaum daß ein paar Gruppen, in den Gängen beisammenstehend, das Ereignis besprachen. Am anderen Morgen waren die Promenadendecks überfüllt … Fragen in allen Sprachen schwirrend … Erregung über das Ereignis in Worten und Gesten … ein aufgeregter Bienenschwarm …
Nur wenige waren es, deren Eigentum geraubt war … Die Frechheit der Räuber! Hier … auf offener See … die Piraten! Der Ruf nach der Seepolizei! Von allen Seiten wurde er hörbar.
Doch kein Menschenraub … die Passagierliste aufgerufen … alle waren da gewesen, bis auf eine Miss Harlessen aus New York, eine kleine Kontoristin … sie sollte fehlen … nun, wer weiß, wo sie sich versteckt hatte in der Angst. Die Lautsprecher hatten mehrmals vergeblich ihren Namen ausgerufen.
Die Melodien der Musikkapelle klangen vom Oberdeck. Mit jedem Ton verschwanden Angst und Sorge mehr. Die, deren Depots geraubt waren? Die Versicherungsgesellschaften mußten es tragen. Wie lautete denn der neue Passus in den Policen? Auch gegen Seeraub … man hatte gelacht, als man zuerst die Worte las … und doch, wie hatte die Wirklichkeit die Lachenden eines Besseren belehrt.
Die Schiffszeitung brachte am nächsten Morgen Nachrichten aus aller Welt, Nachrichten von Bord … da zum Schluß: Passagier Christie Harlessen ab Hafen Valparaiso an Bord der »Abraham Lincoln«, vermißt seit der Stunde des Überfalls.
Der Prozeß James Smith war zu Ende! Der Angeklagte freigesprochen! Eine Sensation ohnegleichen! Tagelang war Washington überfüllt. Schon allein das Riesenheer der Reporter, die aus allen Teilen der Welt hierher geeilt waren, brachte Tausende nach Washington. Bis in die entlegensten Winkel der Welt drangen ihre Berichte.
Sensationsprozeß?
Und doch! Die Gerichtsverhandlung … Wie wenig waren die meisten auf ihre Kosten gekommen! Die Sensation lag im Geschehnis, das den Grund zum Prozeß gab; in den fürchterlichen Auswirkungen hatte sie gelegen. Die Gerichtsverhandlungen selbst?
Die einzige Sensation war der Angeklagte. Als die Hünengestalt des Chefingenieurs in den Saal trat, ging ein Ruck durch die Tribünenbesucher.
Das war der Mann, der Mann, an dessen Name sich alles knüpfte, fortspann über Jahrhunderte, Jahrtausende. Absichtlich? Unabsichtlich?
Eine Tat war geschehen durch ihn, die alle Ordnung der Welt über den Haufen warf. Der ganze Riesensaal … aller Blicke, vom Vorsitzenden des Gerichtshofes bis auf den letzten der Zuhörer, waren minutenlang wie gebannt auf den Angeklagten gerichtet.
Das war der Mann! Sein Bild? Die Presse der Welt hatte es längst gebracht. Ein Bild aus früheren Tagen, aus Tagen vor dem, an dem es geschah. Wie würde er jetzt aussehen?
Seine Gestalt, sein Gesicht, bis in die kleinsten Züge verfolgte es die Versammlung. Jeden! Zitternd in dem Versuch, darin zu lesen … irgend etwas.
Das Gesicht … nach dem, was geschehen, es konnte … es mußte sich verändert haben. Irgendwie … das ungeheure Unglück drüben! Wenn er auch schuldlos war, irgendwie mußte das doch die Züge geändert haben.
Wäre er gebeugt, mit allen Zeichen des seelischen Gebrochenseins, geführt von helfenden Armen, in den Saal gekommen, die wenigsten hätten sich darüber gewundert.
Aber