Vergessen Ruf und Ehre … Vergessen sein Feind.
Juanita! Sie allein zählte. Nichts anderes mehr!
Mit einem Sprung war er bei ihr. Er trug sie zum Lager, bettete sie, streichelte ihr Gesicht. Seine Lippen stammelten wirre Worte …
»Die Besuchsstunde ist vorüber.«
Der Schließer stand vor ihnen. Von Smiths Arm geleitet, schritt Juanita der Tür zu. Die Tür fiel ins Schloß.
Die »Abraham Lincoln«, achtzigtausend Tonnen, Turbinenschiff auf der Route Valparaiso-New York, hatte die Galapagosinseln hinter sich und setzte Kurs auf den Kanal von Panama.
»Kap Azuero in Sicht!«
Die Lautsprecher hatten es gerufen. Wie ein Lauffeuer ging es durch alle Räume des mächtigen Schiffes! Kap Azuero! Das Wort weckte die Tausende von Passagieren, die der Bauch des Riesenschiffes barg.
Azuero! Bis vor kurzem noch Halbinsel am Isthmus, jetzt das Südkap von Nordamerika. Kontinent Amerika; der frühere Begriff der großen von Pol zu Pol zusammenhängenden Landmasse war ja hinfällig geworden.
Gewiß, schon seit Jahrzehnten hatte eine kleine Wasserstraße zwischen den beiden Ozeanen bestanden. Ein kleiner, schmaler Wasserpfad, auf dem die Schiffe vermittels mächtiger Schleusen über das Land hinweggehoben wurden. Ein Wasserpfad, der schließlich doch nur einen mikroskopisch feinen Riß auf der Erdkruste bedeutete.
Aber was war jetzt da? Eine zweihundert Meilen breite Riesenkluft.
Ein weiter Meeresarm. Ein Tummelplatz für die Gewässer der beiden Ozeane, die sich hier im freien Spiel der Kräfte maßen. Die Landbrücke des Isthmus an dieser Stelle verschwunden, zwei Kontinente jetzt, der nordamerikanische, der südamerikanische.
Ein Ereignis von ganz unvorstellbarer Größe hatte das vermocht. Doch nicht aus sich selbst heraus war es geschehen. Menschenhand hatte einen für Menschengedenken ewigen Zustand in Minuten vernichtet, älteste Weltordnung über den Haufen geworfen. Das Ungeheure des Geschehens, das Ungeheure seiner Folgen hatte seit jenem Tage unzählige Scharen von Schausüchtigen, Neugierigen dorthin gezogen.
Gab auch das neuentstandene Meer allein nicht die gewünschte Sensation, so fand sie sich bei dem Besuch der noch stehenden Zeugen des zerfetzten Isthmus. Freilich ein ergreifendes Bild.
Die reiche, blühende Landschaft war Wüste, Chaos! Die kühnste Phantasie durch die Wirklichkeit übertroffen. Berge, wo Täler, Täler, wo Berge! Flüsse … ihr Jahrtausendealter Lauf verschwunden … neue entstanden! Alle menschlichen Behausungen bis zur leichtesten Indianerhütte zerstört. Tausende und aber Tausende von Menschen getötet … verschüttet … verbrannt … ertrunken. Das sterbende Europa war das letzte, fürchterlichste Glied dieser Kette von Unheil.
Vom Tag der Abfahrt an war dies das Tagesgespräch der Passagiere gewesen … war es geblieben, die Spannung steigernd bis zu dem Augenblick, wo man vom Schiff aus mit eigenen Augen ein Bild – war es auch nur ein kleiner Ausschnitt des Riesengeschehens – sehen mußte.
Sie kamen auf Deck gestürzt.
Azuero! … Azuero!
Der Kapitän auf der Brücke, zu seinem Navigationsoffizier gewandt, wies lachend auf die Menge, die sich an die Reling drängte.
»Bis Mittag können sie warten, ehe sie ihre Neugier befriedigen können. Und dann«, er lachte laut, »werden sie lange Gesichter machen.
Wir werden uns dicht an der Westküste halten. Die Ostküste ist nach den letzten Segelanweisungen nicht frei von Riffen. Es wäre Zeit, daß die Regierung neue Seekarten herausbringt. Aber die Vermessungsarbeiten dafür scheinen der amerikanischen Schiffahrt aufgepackt zu werden. Lotungen, Peilungen, Temperaturen, Strommessungen – das Schiffahrtsamt verlangt alles von uns.«
Er nahm das Glas vor die Augen.
»Da hinten! Das leichte Kräuseln im Westen und Osten! Es müssen schon die Ränder des neuen Stromes sein. Lassen Sie mit den Messungen beginnen. Ich bin selbst auf das Ergebnis neugierig. Ist es doch auch für mich das erstemal, daß ich auf diesem Meere fahre.«
In einem Liegestuhl des Oberdecks lag Christie Harlessen. Sie preßte die Hände an die Stirn. Wie eine körperliche Qual empfand sie das laute Tun und Treiben der Passagiere. In der Mehrzahl waren es ja Amerikaner.
Aber doch – sie wußte es aus der Schiffsliste – befand sich auch eine beträchtliche Anzahl von Europäern, auch aus den nordeuropäischen Ländern, an Bord. Wie konnten die? War es nicht genug, das Bewußtsein allein: Europa stirbt? Konnten diese ihre Neugier an der Quelle des Unheils nicht bezähmen? Mußte nicht jeder Schraubenschlag des Schiffes, der sie näher heranbrachte, sie niederdrücken?
Seit jenem Tag … jede Minute des Tages stand ihr deutlich vor Augen.
Der Kampf um die Schiffe von Sonnenaufgang bis Untergang … der Sieg … Triumph … unendliches Hochgefühl im Herzen. Die Millionen gerettet für die Firma Harlessen und Uhlenkort.
Durch sie! Die Harlessen und doch Fremde. Fremde? Nein! Die geretteten Schiffe, sie wischten es fort, das Wort »fremd«. Die kostbare Ladung der Schiffe gerettet durch sie, diese Tat öffnete das Tor, das zur Heimat führte. Hamburg … Heimat … wo blieb es jetzt?
Der Strom der Völkerwanderung, vom Norden Europas einsetzend, zum Süden flutend, sich zerteilend nach allen Himmelsrichtungen … wohin würde er das führen, womit sich ihr der Begriff Heimat verband?
Wo in der Welt würden Harlessen-Uhlenkort ihren neuen Sitz gründen, aus dem neue Heimat entstand – wenn es überhaupt noch möglich war?
Politik! Nie hatte sie sich darum gekümmert. Gleichgültig war ihr das Wort geblieben. In jenen Tagen erst, in denen sich die Fäden von ihr zu Harlessen-Uhlenkort gesponnen hatten, war es ihr ins Bewußtsein getreten. Überall in der Welt saßen die Vertreter der Firma, überall waren ihre Interessen verknüpft mit der Weltwirtschaft. Doch die Hauptadern, die Kohlengruben in Spitzbergen, die Zinngruben in Südafrika: unabwendbares Unheil stand darüber.
Walter Uhlenkort! Er, der Kopf, das Gehirn des Ganzen! Wo war er jetzt? Im Geiste fühlte sie sich an seiner Seite stehend. Übernatürliche Kräfte fühlte sie in sich, ihm zu helfen, sein Werkzeug, seine Gehilfin zu sein. Was war jetzt noch ihre Tat? Was waren die geretteten Millionen gegenüber dem Zusammenbruch, der alles verschlingen mußte und auch sie zu verschlingen drohte?
Ein Freudenschrei, von Backbord beginnend, pflanzte sich über das Schiff hin.
»Die neue Küste! Der Kanal! Das neue Meer!«
In wirren Rufen klangen die Worte über das Schiff. Das steuerte Nordnordwest. Von Steuerbord strömten die Massen zur Backbordreling. Da! Da mußte etwas zu sehen sein! Näher fuhr man an der neuen Küste. Christie sprang auf. Unerträglich dieses Schreien, Jubeln der Neugierigen. Sie ging hinunter in ihre Kabine, warf sich dort auf das Bett.
Nur der Gedanke: Allein sein! Weg von diesen! Sie war allein … gewiß. Der Lärm von Deck drang nicht bis zu ihr hinunter.
Und doch! Ihre Gedanken kamen nicht los von dem, was sie peinigte, marterte von jenem Tage an. Stunden verrannen. Sie hörte nicht, wußte nicht, wie sie von dem einen in den anderen Ozean in freier, breiter Fahrt hinübergekommen war. Uhlenkort … Hamburg … ihre Gedanken gingen um diese beiden Worte.
Der Kapitän starrte auf die Tabellen, die der Navigationsoffizier vor ihm ausgebreitet hatte.
»Die Tiefenmessungen? Fast durchgehend mehr als tausend Meter!
Ich verstehe das Stöhnen der Erde … die Wunde, die ging tief …
Wasserwärme achtundzwanzig Grad. Der Golfstrom … schon die Temperatur allein sagt’s. Fahrtversetzung? Fünf Meilen! Das heißt, der Golfstrom auf seinem neuen Weg durch die Landenge verringerte unsere Fahrt um fünf Meilen in der Stunde. Kein Zweifel mehr! Der Golfstrom fließt restlos im neuen Bett.
Die Folgen für Europa?