Ich habe es verschmäht, dieser Weg zu gehen. Das Gegenteil tat ich. In einem Schreiben an den Kongreß bat ich, bei der Zusammensetzung des Gerichtshofes Männer zu nehmen, die meine notorischen Gegner sind, wirtschaftlich und politisch. Man hat meiner Bitte entsprochen. – Doch zu unseren Geschäften. Es wäre etwas anderes, wenn Euer Majestät in Anbetracht der veränderten politischen Konstellation – die Afrikanische Union im Bunde mit Europa – Ihre Dispositionen geändert hätten?«
Der Kaiser schwieg. Guy Rouse fuhr fort:
»Daß die Verhältnisse der Parteien sich durch die letzten Ereignisse von Grund auf geändert haben, dürfte keinem Zweifel unterliegen. Wie könnte die Südafrikanische Union es jetzt noch wagen, die berechtigten Wünsche Euer Majestät zu verweigern? Gewiß, es wird sich ein Strom von Europäern über Südafrika ergießen. Darunter die Mehrzahl waffengeübte Männer. Aber … die Männer allein. – Die Zeiten, wo die Macht der Fäuste entschied, sind vorbei. Die europäischen Lieferungen, Kriegslieferungen werden und müssen ausbleiben. Ein anderer, der an Europas Stelle träte? Wer sollte es sein? Amerika? Die Vereinigten Staaten …«
Ein kurzer Ruck, der durch den Körper des Kaisers ging.
»Die Vereinigten Staaten?« Die Augen des Kaisers bohrten sich in das kühle, unbewegte Gesicht des Sprechenden.
»Die USA, Majestät. Ich muß hier meine Ansicht über die sogenannte öffentliche Meinung etwas revidieren. Es gibt Momente, Majestät, wo die öffentliche Meinung unter dem Druck der Sentiments den Einflüssen des Goldes nicht zugänglich ist. Momente! Aber wie oft in der Weltgeschichte waren es Momente, die den Ausschlag gaben.«
Der Kaiser schaute ihn an, lange.
Ja, das war ein Mann, ein Mann von außergewöhnlicher Größe. War die verkörperte Macht des Goldes … ein Herrscher, ungekrönt, doch größer als so mancher …
»Ihr Gedankengang, Mr. Rouse – immer wieder bewundere ich Ihren Weitblick, Ihren Scharfsinn –, er ist mir klar. Meine Dispositionen haben sich nicht geändert. Alles bleibt, wie wir es vor Wochen besprochen haben. Europa … sein Schicksal … tritt es ein …«
Einen Augenblick schien es, als zweifle der Kaiser, als könne er nicht glauben.
»Meine Regierung wird Europa beistehen. Die Afrikanische Union wird nachgeben … Gott helfe mir, müßte ich …«
Augustus Salvator war aus dem hellen Licht der Lampe in das Dunkel zurückgetreten. Die Unterredung, die vorangegangene Kabinettssitzung … Er fühlte, daß seine Kräfte nachlassen würden, bliebe er noch länger unter dem zwingenden Bann dieses Mannes.
»Sie werden mir jederzeit willkommen sein, Mr. Rouse.«
»Ich danke Euer Majestät.«
Er beugte sich, als wenn er eine Hand küßte, die doch nicht da war, und ging hinaus.
Der Stettiner Hafen zeigte ein ungewohntes Bild. Seit Tagen schon.
Schiffe aller Größen, von Norden kommend, legten an den Kais an, Menschenmassen an Land speiend. Grubenarbeiter aus Spitzbergen, die nach den russischen Kohlenzechen im Donezbecken und im Uralgebirge dirigiert wurden.
In der Mehrzahl verheiratete Leute, die mit Weib und Kind neue Heimat und neue Arbeitsstätten zu suchen gezwungen waren. Die Unterkunftsmöglichkeiten, für einen solchen Andrang nicht eingerichtet, waren überfüllt. Viele lebten in Schuppen, viele im Freien. Auf den Sachen sitzend, die ihre geringen Habseligkeiten bargen.
Eine neue Völkerwanderung! Doch die Gesichter der Auswanderer so ganz anders! Kein Zeichen froher Hoffnung. Mißmutig, düster standen sie in dem nässenden Nebel, der bleigrau Hafen und Stadt deckte. Selbst die Kinder waren gedrückt, unbewußt fühlten sie den Druck des Unheils, das alles vor sich hertrieb.
Bei einer Gruppe, die fester als andere zusammenhielt, saß Klaus Tredrup. Es waren die Leute seiner Belegschaft. In den wenigen Wochen, die er mit ihnen zusammengearbeitet hatte, hatte sein offenes, freies Wesen sie eng an sich zu fesseln gewußt. Als die Minen stillgelegt wurden, der Abtransport feststand, hatte er sich eines befreundeten russischen Ingenieurs im Ural erinnert, hatte sich telegrafisch an ihn gewandt, die Zukunft seiner Leute so gut wie möglich zu sichern. Der war gern bereit gewesen, und so fuhren sie jetzt zum Ural. Plaudernd, scherzend mit den Leuten, hatte er es verstanden, ihnen Furcht und Bedenken vor der weiten Reise nach einem unbekannten Lande zu zerstreuen. Er selbst hatte zunächst die ganze Fahrt mitmachen wollen, erwogen, eventuell dort zu bleiben. Da, im letzten Augenblick, war Walter Uhlenkort nach Spitzbergen gekommen, hatte ihn zu sich gebeten zu einer Unterredung im alten Leuchtturm.
Tredrup war gegangen. Gegangen … nicht mit dem gewohnten freien Schritt. Einmal nur war er da gewesen. Einmal hatte er seinen Bewohner gesehen. Die nächtliche Fahrt!
Tagelang … nächtelang … unaufhörlich tobten die Erinnerungen daran in seinem Hirn. Immer wieder hatte er versucht, all das Mystische, Geheimnisvolle auszuschalten. Streng logisch, mit kühlem, klarem Kopf alles zu rekonstruieren, was da geschehen.
Da war er bei dem Schiffer, dessen Weib krank lag. Bewog den, ihn als Stellvertreter zu melden. Da stieg er in das Motorboot. Da fuhren sie im Schein der Mitternachtssonne nach Süden.
Fuhren sie? Flogen sie?
Da begann schon das Rätsel. Was war das für eine Schnelligkeit, die das Boot – es war ein Boot wie tausend andere – durch die See trieb? Er hatte keine Karten, keine Instrumente, gehorchte nur den Weisungen des Steuermanns.
Doch sein Gefühl sagte ihm … lange genug war er in seiner Jugend auf See gefahren … diese Schnelligkeit überstieg alles, was die kühnste Phantasie sich vorstellen konnte.
Die skandinavische Küste – im Flug war sie erreicht. Weiter, weiter nach Süden. Fjord an Fjord, Fjord nach Fjord. Wie im Fluge schossen sie daran vorbei. Bis die mitternächtige Stunde schlug, bis der vom Leuchtturm … Dann brach es ab … brach ab … ein paar Bruchstücke.
Was hatte er getan, der Geheimnisvolle? Immer wieder die Frage. Was hatte er getan?
In stundenlangem Brüten hatte er sein Gehirn zermartert, das zu ergründen. Es gelang nicht, gelang auch nicht, den Weg zu finden, zu dem Traum … Traum. War das ein Traum? Vineta? Die versunkene Stadt im Ostmoor. Die Sage, die sich daran knüpfte … gewiß! Er kannte sie von Jugend auf.
Aber das andere, was er wie im Traum weiter gesehen? Das Bild, wie sie dalag an der Nordspitze der Insel. Oben die Burg, zu ihren Füßen die Stadt.
Er war darin gewesen, war über Straßen und Plätze gegangen. Hatte das reiche Leben gesehen, das sich dort abspielte.
Ein Traum? Wie konnte er träumen, was er nie gewußt, was er nie gelesen, was seine Sinne nie aufgenommen? Er hatte sich nach Hamburg gewandt, hatte sich verschafft, was die Forschung über Vineta ergeben. Da stand es schwarz auf weiß … was er geträumt. Die Bilder, die er gesehen, da waren sie.
Er hatte gegrübelt, ob ihm nicht doch jemals das schon vorher zu Gesicht gekommen, ob es nicht doch nur ein Widerspiel im Schlaf gewesen. Nein! Sein Seelenheil hätte er verwetten mögen, daß er nie gelesen, was ihm der Traum zeigte.
Und nun das, was hinausging über die Grenzen … über alle Grenzen des klaren Verstandes. Nach langem Schlaf war er in seinem Zimmer erwacht … kämpfend mit den wirren Eindrücken des Erlebten.
Die Zeitung hatte er ergriffen. Das armselige Blatt, wo es stand: Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden. Seine Augen hatten an der kleinen Notiz gehangen, als gelte es Leben und Sterben für ihn.
Immer wieder hatten seine Lippen die Worte wiederholt: Die Stätte, wo einst Vineta lag, ist wieder erstanden.
Zuviel. Das war zuviel! Mechanisch hatte er das Blatt in die Tasche gesteckt, war zur Grube gegangen, war eingefahren. Wie Feuer hatte ihm das in der Tasche gebrannt.