Vorwärts! Vorwärts! … Ihm nach!
Er beugte den Kopf über seine Linke. Wie rotes Feuer erglänzte der Ring des Dschingis-Khan in den Strahlen der Morgensonne. Seine Lippen berührten das Gold. Ein Schauer rann durch seinen Körper.
Wetteifernd mit den Fluten des Irtysch, strömten die mongolischen Myriaden an seinen Ufern westwärts. Meile um Meile gewannen sie, bis die Gebirge zurückwichen und der Fluß sich zum See weitete. Jetzt strömten auch die Massen auseinander. Die niedere Gebirgskette quer vor ihnen war das letzte Hindernis.
Die Sonne war höher gekommen. Doch der kühle Morgenwind hatte sich auch um die Mittagszeit nicht gelegt. Im Gegenteil. Er war von Stunde zu Stunde kälter geworden.
Jetzt ging eine seltsame Veränderung des Himmels vor sich. Die Sonne verschwand hinter einem grauen Dunstschleier. Ein eisiger Luftstrom aus Nordwesten kam den Marschierenden entgegen. Welk und schwarz, wie verbrannt, hing das saftige Julilaub an Bäumen und Sträuchern.
Die Luft füllte sich mit Nebeln, die sich da und dort zu schwerem dunklen Gewölk zusammenballten. Aber die Dunstwolken fielen nicht in Tropfen zur Erde, sondern wurden von den Windstößen bald nach oben, bald nach unten gerissen. Kurz auftretende Windstille ließ auch sie manchmal stillstehen, daß sich die bizarren Formen wie dunkle Felswände vom Himmel abhoben.
Die Kälte nahm immer mehr zu. Der Wind wehte mit immer stärkerer Kraft. Dann war es plötzlich, als bräche das ganze Himmelsgewölbe zusammen. Erde und Himmel verschwanden in einem rasenden Schneesturm, der sein unermeßliches Netz weithin über seine Beute warf. Nur hin und wieder vermochte das Auge durch das dichte Treiben der weißen Flocken dünne Ketten geduckter Gestalten zu erblicken, die sich mühsam durch das Chaos vorwärts kämpften. Die Räder der Fahrzeuge schnitten bis an die Achsen in den Boden ein, der sich mit dem Schnee zu einem eisigen Kot vermischte.
Peitschenhiebe und Rufe! Flüche in allen Zungen Asiens schallten durch die Luft. Dazwischen das ängstliche Schnauben der Pferde und das Gebrüll der Kamele.
Immer häufiger brachen Tiere und Menschen erschöpft zusammen. Was auf dem Wege liegenblieb, wurde rücksichtslos zur Seite gestoßen. Die Hilferufe verhallten ungehört im Geheul des Sturmes.
Dazwischen die anspornenden Rufe der Offiziere.
Vorwärts! … Vorwärts! … Jenseits der Berge winken die warmen Fluren Turkestans … Vorwärts! … Jenseits der Berge ist Sommer.
Aber die Gebirge waren unsichtbar. Hinter den wirbelnden Schneeflocken verborgen. Die Ebene, durch die sie marschierten, von den immer mächtiger niedergehenden Schneemassen bald mit einem dichten Leichentuch bedeckt.
Gegen Mittag ließ die Gewalt des Sturmes nach. Für Augenblicke brach die Sonne durch das dunkle Gewölk. Es wurde Rast gemacht und gegessen.
Überermattet warfen die Truppen sich auf das weiße Schneelager. Die aus dem rauhen Norden des Landes stammenden Mannschaften erholten sich verhältnismäßig schnell. Die südchinesischen Regimenter in ihrer leichten Ausrüstung wurden ungleich stärker mitgenommen. Ihre erstarrten Finger vermochten kaum die Mahlzeit zum Munde zu führen.
Auf einem felsigen Promontorium hielt der Stab des Toghon-Khan. Er selbst hatte sich in ein schnell aufgeschlagenes Zelt zurückgezogen. Die Offiziere standen fröstelnd auf dem schneefreien Gestein. Der Fatalismus der Orientalen kam gegen dieses unerhörte Naturereignis nicht auf.
Scheu, mit leiser Stimme flüsterten sie sich ihre Betrachtungen und Beobachtungen zu. Zwei Generale aus dem engsten Gefolge des Regenten saßen unter einer mächtigen Eiche, den Blick auf die tief unten liegende Straße gerichtet.
Es waren Batu-Khan und Ugetai-Khan, die treuesten Anhänger des verstorbenen Kaisers. Schon zu Lebzeiten des Schitsu waren sie Rivalen des Toghon gewesen. Sie neideten ihm das besondere Vertrauen des Kaisers. Sie neideten ihm den Ruhm des großen Feldherrn, der jeden anderen Ruhm überstrahlte.
Auch sie waren unter denen gewesen, die Schitsu an sein Sterbelager rief. Nur unwillig hatten sie es ertragen, daß der Ring und die höchste Macht in die Hände des Toghon kamen. Dann aber hatten sie sich den großen Gedanken des Kaisers unterworfen, deren Vollstrecker Toghon war.
Ihre Blicke ruhten auf dem Tal. Verschwunden war jede Spur von Grün. Weiß war das Land bis zum fernen Horizont. Wie Maulwurfshaufen die hingeworfenen Gestalten der Soldaten. Nur hin und wieder schwelende Lagerfeuer, wo es den Truppen gelungen war, das mühsam zusammengesuchte Gestrüpp zu entzünden. Düster sahen die Generale auf das unheildrohende Bild. Das stärkste Heer, das das Himmlische Reich jemals unter Waffen gehabt hatte … das wie ein Sturmwetter über den Westen hinbrausen sollte, um den alten Traum des Ostens zu verwirklichen … Würde es der großen Aufgabe gerecht werden können, wenn ihm hier ein unerwartetes … ein unerklärliches Unwetter die Schwingen lähmte?
Ihr abergläubischer Sinn sah in diesem Wetter ein böses Vorzeichen für den ganzen Feldzug. Ugetai brach das Schweigen:
»Was ist’s mit dem Toghon? Als die ersten Flocken fielen, wurde sein Gesicht bleicher als der Schnee. So sah ich ihn nie in den dreißig Jahren unserer gemeinsamen Kämpfe.«
Es dauerte, bis Batu die Antwort fand:
»Auch ich erschrak, als ich die Miene Toghons sah. Wie konnte er wissen, daß aus jenen ersten noch harmlosen Flocken, die wir alle für ein kurzes, neckisches Spiel der Natur hielten, dies vernichtende Unwetter entstehen würde?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich mußte sofort des Schneefalles am Tage des Einzuges gedenken …«
»An jenem Tage betrog Toghon die Erde. Er entriß ihr ein Opfer, das ihr gehörte. Die Erde hat ihn damals gewarnt. Heute nimmt sie ihre Rache.«
Ugetai sah ihn einen Augenblick überlegend an.
»Ich beuge mich vor der höheren Weisheit deines grauen Hauptes.«
»Furcht ist in Toghon! Er scheut das Antlitz der zürnenden Natur. Wer hätte sonst jemals den Toghon im Felde im Zelt gesehen?«
Er, der Toghon, ruhte im schnell errichteten Zelte auf einem niederen Lager. Die Augen, weit geöffnet, starrten zu der braunen Leinendecke. Die Lippen waren fest zusammengepreßt, als hielte ein Siegel ihr Geheimnis verschlossen. Auf seiner Stirn perlten Schweißtropfen.
Abgefallen waren Miene und Haltung des Siegers. Geschlagen … gefangen … vernichtet schien der Mann zu sein, der noch vor wenigen Stunden in stolzem Sprung über den Grenzgraben setzte.
Ein schwerer Atemzug hob die Brust des Liegenden. Seine Hand warf den Teppich zurück, der ihn bedeckte. Mühsam richtete er sich auf. Und dann begann er zu wandern. In dem engen Geviert des Zeltes schritt er rastlos hin und her. Er fühlte sich der Stimme beraubt. Nur die Lippen murmelten ungehörte Befehle.
Dieser ungeheure Schneefall … es war ein Eishandschuh, den Europa ihm vor die Füße warf … und den er nicht aufzunehmen vermochte.
Aber wie weit reichten Schnee und Frost? Bis in die warmen, weichen Steppen des Siedlerlandes? … Unmöglich!
So weit konnte die Macht … die Kunst des Feindes nicht gehen … Nur vorwärts! … Nur heraus aus diesen letzten Bergen! Da … jenseits der Steppe … da mußte der Sommer wieder beginnen.
Wo blieben die Flugzeuge, die ihm Meldung brächten, wie es da vorne stand? Der Schneesturm ließ keinen Boten durch …
Lauschend hob er das Ohr … da! … Ein Surren von Propellerflügeln. Er riß den Vorhang zurück und trat ins Freie. Prüfend überflog sein Auge das dunstige Himmelsgewölbe.
Da … In höchster Höhe ein Pünktchen … War’s einer von seinen Fliegern? …
Mit kaum bezähmter Ungeduld wartete er. Sein Auge fiel auf die Gruppe der Offiziere, die ihn schweigend anstarrten. Ein argwöhnischer Blick überflog prüfend die Gesichter. Sahen sie die Verzweiflung, die in ihm tobte? … Erkannten