Er warf einen Seitenblick auf Witthusen, der am Fenster stand und in die Nacht hinausblickte. Auch Collin Cameron erhob sich jetzt und trat dicht an Maria heran.
»Mit einem anderen?« fragte sie.
»Ja, mit dem meinen!«
Er hatte ihr die Worte ins Ohr geflüstert. Jetzt beugte er sich vor und suchte in der wachsenden Dämmerung den Eindruck seiner Worte aus ihren Zügen zu lesen.
Einen Augenblick sah ihn Maria verständnislos an.
»Unter Camerons Schutz wäre jeder geborgen.«
»In Ihrem Haus? … Ich in Ihrem Hause?«
»Als mein Weib!«
Ein jäher Schreck zuckte über Marias Züge. Eine tiefe Blässe zog über ihre Wangen. Mechanisch wich sie vor Collin Cameron zurück.
»Nie, Mr. Cameron!«
»Oh, Fräulein Maria … lassen Sie unsere Worte ungesprochen sein! … Ich vergaß die Lage, in der Sie sich befinden. Verzeihen Sie mir! Es war töricht, von Liebe zu sprechen, wo es sich um die Freiheit handelt.«
Er trat auf sie zu und versuchte ihre Hand zu fassen.
»Verzeihen Sie mir, bitte, verzeihen Sie mir. Fräulein Maria. Nur um ein Kleines möchte ich Sie bitten. Lassen Sie mich nicht ohne jede Hoffnung von hier gehen. Sie wissen nicht, was Sie für mich und mein Leben bedeuten. In besseren Tagen werde ich wieder zu Ihnen kommen … Und wäre es dann nur Kaschgar … ich würde es verlassen … zur selben Stunde, zu der Sie es wünschten.«
Witthusen trat vom Fenster zurück an die beiden heran. Maria drängte sich an ihn, schob ihren Arm unter den seinen.
»Und wann denken Sie, Mr. Cameron, daß wir Urga verlassen … wieder frei sein dürften?«
»Was an mir liegt, soll geschehen, um Ihnen die Freiheit zu verschaffen. Ich komme morgen nach Peking. Alle Verbindungen, die mir dort zur Verfügung stehen, werde ich für Sie ausnutzen. Wenn es das Glück will, bin ich in wenigen Tagen wieder hier und hoffe von Ihnen frohen Empfang … auch von Ihnen, Fräulein Maria.«
Er ergriff ihre Hand und drückte einen Kuß darauf.
Vater und Tochter waren wieder allein. Sie sprachen über den unerwarteten Besuch Camerons. Aber das Gespräch schlich mühselig dahin. Keiner zeigte die Freude, die der Besuch doch eigentlich machen mußte. Es blieb etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen, das jede freudige Regung zurückhielt.
Langsam verschlichen die Viertelstunden. Der Wärter brachte die Mahlzeit. Sie blieb unberührt stehen.
Die Erregung des Kommenden nahm sie ganz befangen. Sie stieg aufs höchste, als die Uhr die neunte Stunde zeigte.
Minute auf Minute verrann. Maria sprang nervös auf und trat ans Fenster. Sie wollte den Gang der Zeiger nicht mehr sehen.
Regungslos verharrten sie beide.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie auffahren. Der Wärter trat ein. Das Licht seiner Kerze fiel auf ein verstörtes Gesicht.
»Was ist?«
Von zwei Seiten scholl ihm die Frage entgegen.
»… Ahmed ging soeben vorbei … er winkte verstohlen … nichts! … Nichts! … Heute nichts …«
Maria sank auf ihren Sessel. Sie ließ den Kopf auf das Schachbrett fallen. Verhaltenes Schluchzen erschütterte ihren Körper. Der Alte trat auf sie zu und legte den Arm um sie.
»Sei gefaßt, Maria! … Wenn nicht heute, dann morgen! … Gib die Hoffnung nicht auf. Die Freunde werden uns nicht im Stich lassen …«
So suchte er ihr Trost zuzusprechen und verbarg seine eigene starke Befürchtung, daß der Plan von Fox entdeckt sein könne.
Witthusens Befürchtung war leider nur allzu begründet. Durch eine einzige Unvorsichtigkeit … ein unnötiges Wagnis hatte Wellington Fox den so gut vorbereiteten Plan in der letzten Stunde gestört und die eigene Freiheit verloren.
Wellington Fox saß gut und sicher verborgen in dem Zimmer seiner Herberge. Wäre er dort bis unmittelbar zur Ausführung der Flucht geblieben, so wäre alles gut gegangen.
Die Ungeduld hatte ihn aus seinem sicheren Versteck vorzeitig in die Nähe des Hauses getrieben, in dem die Witthusens gefangengehalten wurden.
So geschah es. Als Collin Cameron das Haus verließ, erkannte er Wellington Fox trotz dessen Verkleidung. Im Augenblick war Cameron in den Schatten getreten. Wellington Fox hatte ihn nicht erkannt. Der war ganz mit der Ausführung des Fluchtplanes beschäftigt. Er umschlich das Haus von allen Seiten, erwog und prüfte die Möglichkeiten, die Gefangenen auch dann noch zu befreien, wenn der Wärter in letzter Stunde versagen sollte.
Die Zeit verstrich darüber. Während er hier noch spähte, waren die Häscher, die ihn fangen sollten, bereits auf dem Wege.
Endlich begab er sich in die Herberge zurück, um Ahmed die letzten Befehle zu geben. Kurz vor der Karawanserei in einer engen dunklen Gasse fühlte er sich von einem Dutzend starker Arme umschlungen. Ein Tuch preßte sich auf seinen Mund, das jeden Schrei erstickte … seine Sinne betäubte. Im Augenblick war er gefesselt und verschwunden.
Eine drückende Stimmung lastete über Peking. Schon bald war sie auf die Freudentage beim Einzuge des Kaisers gefolgt.
Niemals hatte seit diesen Tagen ein Auge den Herrscher wieder erblickt. Die Bulletins der Ärzte blieben auch jetzt nicht immer günstig, sprachen von Ruhe und Schonung, deren der Sohn des Himmels noch bedürfe. Der abnorme Schneefall am Tage des Einzuges war von Abergläubischen als ein böses Zeichen gedeutet worden.
Die hermetische Abschließung des Kaisers gab vielen zu denken. Ebenso wie die Veränderungen in der hauptstädtischen Garnison. Immer neue mongolische Regimenter zogen in die Residenz ein und lösten die alten chinesischen Besatzungen ab.
Wie damals gleich nach dem Attentat, so wurden auch jetzt wieder von neuem energische Schritte gegen alle republikanisch Gesinnten unternommen. Nachrichten aus dem Süden des Reiches, dem alten Herde der republikanischen Bewegung, erzählten von neuen Verfolgungen.
Wozu? … Weshalb? fragte sich die große Menge. Wo war die Gefahr, der man durch solche Maßnahmen entgegentreten wollte?
Im Kaiserpalast hatte der Schanti seit der Rückkehr des Kaisers seinen ständigen Wohnsitz genommen. Wie die Bulletins sagten, war der Kaiser noch nicht so weit erstarkt, um die Zügel der Regierung wieder selbst zu führen.
In dem alten kaiserlichen Arbeitszimmer saß der Regent. Um ihn sein enger Rat.
Mongolisch war hier die Sprache. Ein geübtes Auge konnte wohl auch aus dem Schnitt der Gesichter erkennen, daß kein Chinese dem Kreise angehörte. Nur die treuesten seiner Getreuen, die besten der mongolischen Generale und Staatsmänner hatte der Schanti in diesen Rat berufen.
Damals, als er von Schehol zurückkehrte, den Ring des Dschingis-Khan am Finger, den nahen Tod des Kaisers vor Augen, da hatte er dessen mongolische Paladine zusammengerufen. Er wußte, daß sie ihm nicht alle blindlings folgen würden, daß mancher dem Kaiser treu Ergebene in ihm nur den Rivalen sah.
Mit den Künsten des genialen Staatsmannes hatte er sie für sich zu gewinnen gewußt. Wohl gab ihm der Ring an seinem Finger die Autorität des Regenten, dem sie den Gehorsam nicht verweigern konnten.
Aber Toghon-Khan wollte mehr. Seine Klugheit verbot ihm, diese Macht bedingungslos auszunutzen. Nicht stummen Gehorsam wollte er. Mit Leib und Seele wollte er sie gewinnen, und es gelang ihm. Immer mehr waren sie der Suggestion unterlegen, daß nicht Toghon-Khan es sei, dem sie gehorchten, sondern Kubelai-Khan, der Hwang Ti, der Herr und Kaiser selber. Nur der Träger und Vollstrecker der Pläne und des Willens des kaiserlichen Herrn war der Regent.
Auch wenn der Kaiser von dannen ging, blieben sie alle die Fortführer seiner Gedanken und Absichten, blieben sie ihm nach wie vor Rechenschaft