20.
Dasselbe wird dort im Dekalog des Gesetzes befohlen wie auch uns, aber es wird nicht dasselbe verheißen wie uns. Was wird uns verheißen? Das ewige Leben. „Dies ist das ewige Leben, daß sie dich erkennen, den einzigen wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus“93. Die Erkenntnis Gottes wird verheißen; das ist Gnade um Gnade. Brüder, jetzt glauben wir, nicht schauen wir; der Lohn für diesen Glauben wird sein, daß wir schauen, was wir glauben. Das wußten die Propheten, aber es war verborgen, bevor es kam. Denn ein seufzender Liebhaber sagt in den Psalmen: „Eines hab’ ich vom Herrn begehrt, das will ich suchen“. Du fragst, was er begehrt. Denn vielleicht begehrt er ein Land, das von Milch und Honig fließt in fleischlichem Sinne, obwohl es geistig zu suchen und zu verlangen ist; oder er begehrt vielleicht die Unterwerfung seiner Feinde oder den Tod seiner Widersacher oder Reiche und Güter dieser Welt. Er brennt ja vor Liebe und seufzt viel und glüht und schmachtet. Sehen wir zu, was er begehrt. „Eines hab’ ich vom Herrn begehrt, das will ich suchen.“ Was ist das, was er sucht? „Daß ich wohne“, sagt er, „im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens.“ Und denke dir, du wohnest wirklich im Haus des Herrn, worin wird dort deine Freude bestehen: „Daß ich betrachte“, sagt er, „die Wonne des Herrn“94.
21.
Meine Brüder, warum rufet ihr, warum frohlocket ihr95, warum liebet ihr, als weil dort der Lichtquell dieser Liebe ist? Was ersehnt ihr, frag’ ich euch? Kann es mit Augen gesehen werden, kann es berührt werden? Ist es eine Schönheit, welche die Augen ergötzt? Sind nicht die Märtyrer in hohem Grade geliebt worden, und wenn wir ihrer gedenken, brennen wir nicht vor Liebe? Was lieben wir an ihnen, Brüder? Die von den vielen Tieren zerfleischten Glieder? Was ist häßlicher, wenn du die Augen des Fleisches fragst? was schöner, wenn du die Augen des Herzens fragst? Was hältst du von einem sehr schönen Jüngling, der ein Dieb ist? Wie entsetzen sich deine Augen? Entsetzen sich etwa die Augen des Fleisches? Wenn du sie fragst, nichts ist schöner gebaut, nichts regelmäßiger als jener Leib; das Ebenmaß der Glieder und der Schmelz der Farbe reizt die Augen; und doch, wenn du hörst, daß er ein Dieb ist, bebst du im Geiste vor dem Menschen zurück. Du siehst anderseits einen gebückten Greis, der sich auf einen Stock stützt, sich kaum bewegen kann, von Runzeln überall durchfurcht ist; was siehst du da, was das Auge erfreuen könnte? Du hörst aber, daß er gerecht ist; die liebst ihn, du schätzest ihn hoch. Solche Belohnungen sind uns verheißen, meine Brüder; so etwas liebet, nach einem solchen Reiche verlanget, nach einem solchen Vaterlande sehnet euch, wenn ihr zu dem gelangen wollt, womit unser Herr kam, d. i. zu Gnade und Wahrheit. Wenn du aber körperliche Belohnungen von Gott begehrst, dann bist du noch unter dem Gesetze und darum wirst du eben dieses Gesetz nicht erfüllen. Denn wenn du siehst, daß diese zeitlichen Güter in Überfluß vorhanden sind bei jenen, die Gott beleidigen, dann werden deine Schritte unsicher und du sagst dir: Siehe, ich verehre Gott, täglich gehe ich in die Kirche, die Knie sind mir abgerieben vom Beten, und ich bin immer krank; andere morden, rauben, und sie frohlocken und leben im Überfluß, es geht ihnen gut. Solche Dinge also begehrtest du von Gott? Du gehörtest doch sicherlich zur Gnade. Wenn Gott dir die Gnade deshalb gab, weil er sie umsonst gab, so liebe ihn auch umsonst. Liebe Gott nicht um Lohn, er selbst sei dein Lohn. Es spreche deine Seele: „Eines habe ich vom Herrn begehrt, dies will ich suchen, daß ich wohne im Hause des Herrn alle Tage meines Lebens, zu betrachten die Wonne des Herrn“. Fürchte nicht, daß du Überdruß daran bekommst; die Wonne an jener Schönheit wird von solcher Art sein, daß sie dir immer gegenwärtig ist und du nie satt wirst, oder vielmehr, daß du immer satt bist und niemals satt wirst. Denn sage ich, daß du nicht statt wirst, dann wird Hunger eintreten; sage ich aber, daß du satt wirst, dann muß ich Überdruß befürchten. Wo nun aber weder Überfluß noch Hunger sein wird, wie soll ich das nennen? Ich weiß es nicht; aber Gott hat, was er denjenigen verleiht, die nicht wissen, wie sie es nennen sollen, und glauben, daß sie es erlangen.
4. Vortrag.
Einleitung.
Vierter Vortrag.
Von da an, wo es heißt: „Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden von Jerusalem Priester schickten“ usw. bis dahin: „Der ist’s, welcher tauft im Heiligen Geiste“ usw. Joh. 1, 19―33.
1.
Sehr oft hat eure Heiligkeit gehört und sehr gut wißt ihr, daß Johannes der Täufer, je erhabener er war unter den von Weibern Geborenen und je demütiger zur Erkenntnis des Herrn, desto mehr sich würdig machte, der Freund des Bräutigams zu sein; für den Bräutigam eifernd, nicht für sich; nicht seine Ehre suchend, sondern die seines Richters, dem er wie ein Herold voranging. So war es nun den vorausgehenden Propheten vergönnt, von Christus das Zukünftige anzukündigen, ihm aber, mit dem Finger auf ihn hinzuweisen. Denn wie Christus von denjenigen, welche den Propheten nicht glaubten, vor seiner Ankunft verkannt wurde, so wurde er von ihnen auch als Gegenwärtiger verkannt. Denn er war zuerst in niedriger Gestalt gekommen und verborgen, und zwar um so verborgener, je niedriger; die Leute aber, aus Stolz die Erniedrigung Gottes verachtend, kreuzigten ihren Erlöser und machten ihn zu ihrem Verdammer.
2.
Aber der zuerst verborgen kam, weil er niedrig kam, wird er vielleicht dereinst nicht offenbar kommen, weil erhaben? Ihr habt soeben den Psalm gehört: „Gott wird offenbar kommen, unser Gott, und er wird nicht schweigen“96. Er schwieg, um selbst gerichtet zu werden; er wird nicht schweigen, wenn er anfangen wird zu richten. Es würde nicht heißen: „Er wird offenbar kommen“, wenn er nicht zuerst verborgen gekommen wäre; noch auch würde es heißen: „Er wird nicht schweigen“, außer weil er zuerst geschwiegen hat. Wie hat er geschwiegen? Frage den Isaias: „Wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt ward, und wie ein Lamm vor seinem Scherer keinen Laut von sich gab, so öffnete er seinen Mund nicht“97. Kommen aber wird er offenbar und wird nicht schweigen. Wie offenbar? „Feuer wird vor ihm hergehen, und um ihn her gewaltiger Sturm“98. Jener Sturm hat die ganze Spreu hinwegzufegen von der Tenne, auf der jetzt gedroschen wird, und das Feuer hat zu verbrennen, was der Sturm hinweggefegt hat. Jetzt aber schweigt er; er schweigt als Richter, aber er schweigt nicht als Gebieter. Denn wenn Christus schweigt, was sollen dann diese Evangelien? was bedeuten die Stimmen der Apostel, die Psalmengesänge, die Aussprüche der Propheten? In diesem allem schweigt Christus nicht. Aber er schweigt jetzt, so daß er nicht straft; er schweigt nicht, so daß er nicht mahnt. Er wird aber in Herrlichkeit kommen zur Bestrafung und allen erscheinen, auch denen, die nicht an ihn glauben. Jetzt aber mußte er, weil er auch als Gegenwärtiger verborgen war, verachtet werden. Denn würde er nicht verachtet werden, so würde er nicht gekreuzigt