Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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die Stirn geschoben. Nun nahm er sie ab und klappte die Bügel um, die Sonne fing sich für einen Moment in den Gläsern, Leuchtsignale flackerten zu den Bergen, dem Grab, der Domäne, der tiefliegenden Stadt mit ihren Kirchtürmen hinüber. MacMahon, der bereits beschlossen hatte, ihn leiden zu mögen, lächelte. Ein höflicher junger Mann, ausgesandt von der großen Welt der Bücher und der Gelehrsamkeit, den von Büchern überquellenden Bibliotheken von Oxford und London. Ich bin ein Krümel in der Geschichte geworden, dachte er zufrieden.

      Sie verabredeten, sich jeden Tag zu treffen, hier, oder bei Gelegenheit zum Essen in den Kilpeder Arms, und Prentiss dankte ihm noch einmal, als sie zur Straße, zu Prentiss’ Einspänner zurückgingen.

      Aber MacMahon, die Hand auf das offene Tor gelegt, aufrecht, ohne den gekrümmten Rücken der Schulmeister, schüttelte den Kopf.

      »Sie wissen sehr gut, Mr. Prentiss, daß es für einen alten Mann eher eine Freude ist als eine Zumutung, wenn er gebeten wird, sich zu erinnern. Das Problem ist, daß ich mich an allzu vieles erinnere, an Dinge, die für Sie von keinerlei Interesse sein könnten. Von keinerlei Interesse.«

      »Ich weiß nicht, was für mich von Interesse ist«, erwiderte Prentiss und wechselte plötzlich in einen Tonfall, den MacMahon von ihm noch nicht gehört hatte. »Weder in der Geschichte noch irgendwo anders.«

      »So geht es uns allen«, meinte MacMahon und versuchte, einen entsprechenden Ton zu finden.

      Sie schüttelten einander die Hände, förmlich, zwei Historiker in Klausur, auf freiem Feld im Schatten der Berge.

      Unerwartet, dachte Prentiss, als der Einspänner munter nach Kilpeder zurückrollte. Was hatte er erwartet, als er im Zug von Dublin nach Mallow gefahren war, vorbei an Feldern und Dörfern, an Herden, die vor frühbelaubten Bäumen vor sich hindösten, während auf Hügeln in der Ferne die Silhouetten von zerstörten Bergfrieden vorüberzogen, von allem getrennt durch Bewegung, grünen Plüsch, fleckiges Holz, durch ein verschmutztes Fenster? Einen Schulmeister vom Lande, dessen Gedanken und Vorstellungen notdürftig angefüllt waren von der Halb-Geschichte der Christian Brothers, von patriotischen Schlagwörtern, von Prahlereien über die Tage, als er für Irland zum Gewehr gegriffen hatte. MacMahon hatte er jedenfalls nicht erwartet, die haselnußbraunen Augen wachsam und ironisch hinter der dicken Brille, während Unausgesprochenes im leichten Gespinst seiner Höflichkeiten zitterte. Jetzt sah er MacMahon vor seiner von der Mittagssonne beschienenen Bücherwand. Durch die Geographie von MacMahons Leben, über das er, wie er nun wußte, nichts wußte, fuhr er zurück zu den Geschäften von Kilpeder, dem Marktplatz, der Polizeiwache, wo in den frühen Morgenstunden eines Märztages vor fast vierzig Jahren einige Dutzend junger Burschen in Friesmänteln, bewaffnet mit gestohlenen Gewehren, sich durch eine stille, von fremdem Schnee erfüllte Straße den von Falken bewachten Toren einer Domäne genähert hatten, hinter denen, tief verborgen hinter Buchen und schweren Eichen, ein Teil dessen auf ihn wartete, was er noch nicht wußte. Die Räder seines Einspänners tickten wie eine Uhr, als sie so dahinrollten.

      2

      [Hugh MacMahon]

      Wenn ich wüßte, wo ich anfangen soll, dann wäre ich vielleicht ein gelehrter Historiker wie der junge Mr. Prentiss, dessen Einspänner ich vom Tor aus nachsah, bis er schließlich außer Sichtweite gerollt war und mich in meiner Welt allein und einsam zurückließ. Und doch muß ich einfach glauben, Logik und Geschichte zum Trotz, daß es für mich an jenem Winterabend Ende Januar 1867 anfing, als zur Teezeit Ned Nolan zum ersten Mal an die Tür unseres Hauses in der Chapel Street klopfte.

      Die Straße lag bereits im Dunkeln, so kurz sind für uns im Winter von Munster die Tage, und hinter ihm ragten die beiden Türme von St. Jarlath unten an der Straße in den Himmel. Er war ein dunkler Bursche, an dem nur seine Größe und sein schwerknochiger Körperbau unsere Verwandtschaft andeuteten, und doch wußte ich sofort, wer er war. Wir erwarteten ihn schon seit Wochen, und Fremde kamen selten nach Kilpeder und nie in unser Haus, abgesehen von den jährlichen Besuchen des Schulinspektors. Ich sehe ihn noch vor mir, ein langes Gesicht unter dem weichen schwarzen Hut, ein langes Kinn und hohe, grobe Wangenknochen wie die eines Indianers, tiefliegende Augen, so dunkel wie sein Hut, und lange, dünne Lippen. Er hielt seinen Koffer am Griff, einen riesigen, ausgebeulten Koffer, der aus einem weichen Material hergestellt war. »Ich bin dein Vetter Ned Nolan«, sagte er. »Ich bin aus Amerika zurück.« Als Willkommensgruß packte ich seinen Arm mit meinen beiden Händen und zog ihn ins Haus. Die Straße hinter ihm war wie ausgestorben.

      Aber ich bezweifle, daß diese lebhafte Erinnerung wirklich zutrifft, denn wie hätte ich in der Dämmerung und unter seiner breiten Hutkrempe seine Augen so deutlich sehen können? In Wirklichkeit konnte ich ihn erst, als ich ihn ins vordere Zimmer geführt und er seinen Hut abgenommen hatte, um Mary zu begrüßen, klar sehen. Und Mary konnte sich später an nichts Dramatisches an ihm erinnern, sie sah einen großen, schlaksigen jungen Burschen in Kleidern von amerikanischem Schnitt, mit braunen, eckigen Stiefeln, von der Reise mitgenommen und dringend einer Waschgelegenheit und einer Mahlzeit bedürftig. Da haben wir den Unterschied zwischen Mary und mir, und wir sollten uns auf Marys klaren Kopf verlassen.

      Und Mary war es, die ihn in die Spülküche führte und ihn mit Wasser, Seife und Handtuch versorgte, während sie sich in der Küche an die Vorbereitungen zum Tee machte. Sie war immer noch damit beschäftigt, als er wieder ins Wohnzimmer kam, und ich hatte inzwischen Flasche und Gläser hervorgeholt, damit er den Reisestaub herunterspülen könnte.

      »Bist du aus Cork zu uns gekommen, Ned?« fragte ich ihn.

      »Aus Dublin«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Zuerst London, dann Manchester, dann das Boot von Liverpool nach Dublin. Aber ich habe die letzten zwei Nächte in Cork City verbracht«

      »Eine schöne Stadt«, sagte ich, »die weite Lee und die Kathedrale und der viele Verkehr auf dem Fluß.« Aber was war Cork schon für jemanden, der in New York gelebt hatte und weit in den Vereinigten Staaten herumgekommen war? Er hatte den größten Teil seines Lebens in New York verbracht, aber in seiner Sprache war nur ein haarfeiner Nachklang von einem Yankee-Akzent, er sprach mit derselben Melodie und demselben Rhythmus wie ich.

      »Wir haben dich erwartet«, sagte ich, »und du bist herzlichst willkommen. In deinem eigenen Zuhause könntest du nicht mehr willkommen sein.«

      »Das ist mein Zuhause«, erwiderte er. »Kilpeder ist mein Zuhause.« An der Tür hatte er zu mir gesagt: »Ich bin aus Amerika zurück.« Als ob er vor einem Jahr nach drüben gegangen wäre, um sein Glück zu machen, und nun zurückkäme. Aber vielleicht stimmte das auch, überlegte ich mir, wenn er drei Jahre in der Nordstaatenarmee gewesen war, wie es hieß, während sein Vater in New York gestorben war.

      »Wir wissen, daß dein armer Vater uns verlassen hat«, sagte ich. »Es tut mir so leid für dich. Mein eigener Onkel, und ich kann mich kaum an ihn erinnern. Ich war so klein wie du, als ihr beide Segel gesetzt habt. Aber meine Mutter hat natürlich oft von ihm erzählt, und viele andere auch.«

      »Ja«, sagte er.

      »In der Nation war ein wunderschöner Artikel über ihn und die Beerdigung. Ich habe ihn aufbewahrt. Eine Prozession in New York, mit O’Mahoney und Doheny und den anderen, und drei Flaggen, der Trikolore, der US-Flagge und dem Sonnenaufgang. Einer der Unerschütterlichen von 48, so hat O’Mahoney ihn am Grab genannt, jedenfalls hat er etwas in der Art gesagt, einer der Treuen und der Wahren.«

      »Das weiß ich«, erwiderte Ned. »Es stand auch in den irischen Zeitungen von New York, und sie sind mir alle zugeschickt worden.«

      »Natürlich«, sagte ich, obwohl ich momentan verwirrt war. »Du warst ja im Krieg.«

      »Stimmt«, sagte er. »Ich war im Krieg.«

      »Das war aber sehr hart von ihnen«, meinte ich. »Daß sie dir keinen Urlaub gegeben haben. O’Mahoney war doch auch in ihrer Armee, oder nicht?«

      »Als Colonel«, erklärte Ned. »Als Kommandant eines Regimentes. Er bewachte gefangene Rebellen am Hudson, eine Zugstunde von New York entfernt. Ich war weit weg, in Tennessee.«

      Tennessee. Das war eins