»Ich habe es gewußt«, erwiderte Prentiss. »Deshalb habe ich ja einen Brief für ihn.«
Gilmartin stand müßig mit in die Seiten gestemmten Armen in der Tür und sah hinter Prentiss her, der über den Marktplatz zur Mietstallung ging. Aus dem Haus waren die drei Dienstmädchen bei der Arbeit zu hören, Besenstriche auf den Teppichen. Constable MacGann trat neben ihn, ein bulliger Mann mit rotem Gesicht und klaren blauen Augen unter dem Helm.
»Schau an«, sagte Gilmartin mit entsprechender Kopfbewegung. »Ein wortgewandter junger Bursche aus Dublin und London, der hergekommen ist, um Hugh MacMahon zu besuchen. Ich dachte zuerst, er hätte geschäftlich im Schloß zu tun.«
»Was Wunder«, erwiderte MacGann. »MacMahons Name ist den Gelehrten und Professoren der ganzen Welt ein Begriff.« Gilmartin mißfiel MacGanns Ulster-Akzent, Dornen und Brombeeren.
»Wegen Clonbrony Wood«, fuhr Gilmartin fort. »Das behauptet er wenigstens.«
»Attend you gallant Irishmen«, deklamierte MacGann in einer Art Sprechgesang. »Man sollte doch denken, das alles wäre aus und vorbei und hätte ein anständiges Begräbnis bekommen.«
»Das dachte man auch früher schon«, sagte Gilmartin. »Und dann beschloß Ned Nolan, uns einen Besuch abzustatten.«
»Ein erbärmliches Land«, meinte MacGann, »wo man nicht einmal Schurken und Helden unterscheiden kann.«
»Na ja«, sagte Gilmartin, faul und boshaft in der ersten Wärme der Sonne. »Mich geht das nichts an, Gott sei Dank.«
Prentiss verließ zu seinem ersten Besuch bei dem Mann, der noch nicht zu seinem Freund geworden war, Kilpeder in einem Einspänner, wobei er versuchte, die komplizierten Erklärungen des Stallburschen über den Weg nach Killetin im Kopf zu behalten. Er fuhr an Tullys Laden vorbei und an der Wache, wo vor langer Zeit junge Männer in einen Hagel aus Gewehrkugeln gestürmt waren, standhafte Ziegel und enge Fenster; vorbei an der katholischen Kirche, deren Türen zur Frühmesse geöffnet waren; in Blau gekleidete Statuen wurden sichtbar und ein vergoldeter Tabernakel, der im priesterlichen Schatten nicht funkelte; vorbei am Schulhaus, wo der Mann, der sein Freund werden sollte, einst mit einem Stock in der Hand die Kinder von Kilpeder hatte pauken lassen; vorbei an Hütten mit eingefallenen, unebenen und verrußten Strohdächern; und schließlich hinaus in die Leere der Poststraße nach Macroom. Bei einer Kreuzung, drei Meilen vor der Stadt, gekennzeichnet wie versprochen durch ein kleines, der Mutter Gottes geweihtes Heiligenhäuschen am Straßenrand, bog er nach links ab und hielt auf die Hügel zu.
Junges Korn und Heu leuchtete in der Morgensonne, grünblättrige Kartoffelfelder, dichtbewachsene Grasweiden, schwarz und braun geschecktes Vieh auf den Feldern. Häuser in der Ferne, weißgetüncht, strohgedeckt. Die Gräben auf beiden Straßenseiten waren von blühenden Brombeerhecken überwuchert. Das Gezwitscher von Vögeln, und der Ruf eines Vogels, den er nicht bestimmen konnte, ein langer Ton und dann zwei kurze. Seine Ohren suchten angestrengt nach anderen Geräuschen, aber er hörte nur noch die Hufe auf der festen Erde, das Quietschen der Räder.
Prentiss’ rechte Hand hielt locker die Zügel, seine linke ruhte, durch Zufall, auf seinem Exemplar des Muirhead, kompakt, blau eingebunden, ein voluminöser Führer für Besucher dieser Insel, er erstickte sie mit galvanisierten Tatsachen, Skizzen, Lokalgeschichte, Karten. Für Prentiss brachte das Buch die melancholische Bestätigung der Unzulänglichkeiten der Sprache. »Kleinere Straßen«, hätte der Muirhead sagen können, wenn er sich zu solchen Details herabgelassen hätte, »führen nordwärts zu Dörfern wie Killetin«, ohne Vogelsang oder blühende Hecken zu bedenken.
Vor einigen Monaten in London, in seiner Wohnung in Pump Court, und fast ein Jahr, nachdem er sich zuerst versucht gefühlt hatte, über den Fenieraufstand zu schreiben, als das Bücherpaket von Blackwell angekommen war, das auch den Muirhead enthalten hatte, hatte er es sich sofort in seinem Sessel am Kamin gemütlich gemacht, um den Eintrag über Kilpeder zu lesen. »Ein typischer Marktflecken in West Cork«, hatte er gelesen, »gelegen an der Straße Macroom-Killarney, mit wenig Interessantem für den Besucher, mit Ausnahme von Ardmor Castle, seinen Parks und Ziergärten, Sitz der Earls of Ardmor.« Prentiss, Ire durch Geburt, durch eine Kindheit in Dublin, durch Familienferien am Loch Corrib, hatte den müden Tonfall begriffen, hatte fast Mitgefühl verspürt, hatte sich Kilpeder vorgestellt, indem er es aus Erinnerungen an kleine Städte konstruierte, die er kannte, Longford und Mullingar. Und doch begriff der Muirhead, wenn Prentiss recht hatte, nichts, und seine Sprache brachte die korrekten Lügen aller Reiseführer.
»Geschichte«, hatte der Muirhead angekündigt und dabei voller Selbstvertrauen ein Wort verwendet, das für Prentiss zu einem Gewirr aus Schatten geworden war. »Kilpeder und seine Umgebung, bis zu den Derrynasaggarts im Westen, befand sich ursprünglich im Besitz des gälischen Clans O’Donovan. Der Mittelteil gelangte später in die Hände der mächtigen normannischen Familie Barry, die am Ufer der Sullane eine beeindruckende Festung samt Bergfried errichtet hatte. Das Gebiet ging während der stürmischen Desmond- und Tyrone-Rebellionen der Tudorzeit mehrmals zwischen beiden Familien hin und her. 1584 wurde Sir Tadg O’Donovan durch den Lord Deputy Perrot an einem Baum auf dem Gebiet der heutigen Domäne gehängt. Ein Baum, der angeblich derselbe ist, was man jedoch bezweifeln muß, wird dem Neugierigen gezeigt. Die ursprüngliche Burg wurde 1599 von Hugh O’Neill, dem rebellischen und für vogelfrei erklärten Hugh of Tyrone, belagert und zerstört. Im 17. Jahrhundert gingen die Ländereien von Kilpeder in den Besitz der Forresters, einer Familie aus Dorset, über, die später in den Adelsstand erhoben wurde.«
Armer Baum, dessen Echtheit bezweifelt werden muß, hatte Prentiss neben seinem Londoner Feuer gedacht, als der Verkehr von Fleet Street leise zu seinen Ohren vordrang. Er stellte sich eine nächtliche Szene vor, von Fackeln beleuchtet, ein halbes Dutzend Soldaten, die Tadg O’Donovan zu einer Eiche stießen und zerrten, an der in aller Eile eine Schlinge aus Hanf über einen Ast gestreift worden war. O’Donovans Haare sind verfilzt, ein ungepflegter Bart fällt auf seine Brust. Er schreit vor Wut und Furcht und dreht den Kopf zu seiner besiegten Festung um. Er trägt ein verdrecktes Wams und Hosen aus Ochsenleder. Das Rittertum, das er einst als Belohnung und gegen das Lehensgelübde der englischen Königin gegenüber erhalten hatte, ist jetzt vergessen, durch seinen Verrat zunichte geworden. Perrot, der Lord Deputy, hoch zu Roß, sitzt müßig dabei, er hat andere Aufgaben zu bedenken. O’Donovan brüllt, ein Gemisch aus Gälisch und Englisch. Perrot achtet nicht darauf. O’Donovan zuckt verzerrt an dem Baum, dessen Echtheit bezweifelt werden muß, seine Ochsenlederhosen sind besudelt. Und dieser Baum wird im Reiseführer erwähnt und dem Neugierigen gezeigt.
Aber vielleicht, dachte Prentiss jetzt, als er durch flaches Weideland auf die Vorhügel zufuhr, wußte er auch nicht besser als der Muirhead, wie die Vergangenheit sich abgespielt hatte. Er hatte seine eigene Version aus Scott und Hugo zusammengesetzt, seine Lektüre der Geschichte der Tudorzeit, für die Irland ein düsteres westliches Moor gewesen war, ein Moor, das Reiter und Ruhm, Kernesa und Gallowglassesb mit zerzausten Bärten, verräterisch und dumm, in die Tiefe zog. In der klösterlichen Gelassenheit des New College, Oxford, wo er in Englands festgefügter Geschichte lebte, dessen Steine im Laufe der Jahrhunderte honigfarben wurden, ungeschwärzt von Flammen, hatte er mit beschämter Faszination die narbenreiche und fragmentarische Geschichte seines Volkes gelesen, zur mitfühlenden Erheiterung seines Dozenten. Tee und Scones mit Butter um halb sechs, vor dem Fenster ein behagliches Kloster mit würzigem Geruch, und zwischen ihnen, dem Lehrer und dem Studenten, Stücke von dem, was sich als Geschichte ausgab, beschmutzt, verkohlt an den Rändern. Nun hatte diese Faszination ihn nach West Cork geführt, zum Haus eines in den Ruhestand getretenen Schulmeisters.
MacMahon hatte ihn vom Fenster aus gesehen, Pferd und Einspänner auf der kurvenreichen Straße zwischen den Hecken, und erwartete ihn am kleinen, affektierten, unnötigen Tor. Wilde Heckenrosen kletterten an der niedrigen Wand aus groben Feldsteinen empor. Ein dünner Mann, groß und aufrecht, hohe Stirn, schütter gewordener weißer Haarschopf, energisch geschorener Schnurrbart und, hinter dicken Gläsern, große, haselnußfarbene Augen.
»Seien Sie willkommen, Mr.