»Die Hungersnot war das Ende für das Volk«, sagte MacMahon. »Aber schon damals war die Dichtkunst nur noch ein Rinnsal. Wissen Sie, was der Dichtkunst den Todesstoß versetzt hat, Mr. Prentiss? Wir waren das, die Schulmeister von Kilpeder und den anderen Orten, mit unseren Buchstaben und Zahlen. Wir har ben ihnen Englisch gegeben, und wir haben das Gälische aus ihnen herausgeprügelt. Heute finden Sie in diesen Dörfern junge Burschen, die sich ihrer Großeltern schämen, die kein Englisch oder nur sehr schlechtes Englisch sprechen. Und dann komme ich und bewahre die Dichtkunst als Kuriosität auf. Wie die alten Entdecker, die ein oder zwei Indianerhäuptlinge mit nach London brachten, mit Federkronen und bemalten Gesichtern.«
»Ich fürchte, ich weiß nichts von dieser Sprache«, sagte Prentiss. »Kein einziges Wort.«
»Nun ja«, erwiderte MacMahon. »Im Grunde entgeht Ihnen da wohl nicht viel. Es gehört ja auch nicht zu Ihrem Thema. Die Burschen von 67 sprachen alle Englisch. Die Gälischsprecher, draußen in den Hügeln, lebten in einer anderen Welt als wir. Uns erschienen sie wie wilde Geschöpfe, wenn sie in die Stadt kamen, und das lag nicht nur an ihrer Sprache. Die Männer sahen alle wild und fremd aus, und die Frauen waren scheu wie Hasen.«
Aber Prentiss hatte das beunruhigende Gefühl, schwach, bohrend, daß es durchaus zu seinem Thema gehörte und daß er niemals etwas darüber wissen würde.
»Von hier aus«, fuhr MacMahon fort, »können Sie fast bis Clonbrony Wood sehen, dem großen Thema Ihrer Forschungen.« Das Wort »Forschungen« bewegte sich vage zwischen den Anführungszeichen dessen, was Prentiss langsam als MacMahons Ironie erkannte, hilfsbereit, amüsiert, die Ironie eines Tutors.
MacMahon legte ihm eine Hand auf die Schulter und drehte ihn nach Süden. Die Gehöfte waren größer, und die Landschaft zog sich sanfter, ebener zum Fluß hin.
»Da hinten«, sagte MacMahon, »da liegt Ihr Clonbrony. Damals war der Wald dichter und doppelt so groß. Ardmor verkauft das Holz.«
Ein Schatten zwischen hellgrünen Feldern.
»Von hier aus können wir auch Ardmor Castle sehen, nicht wahr?«
»Sicher können wir das«, antwortete MacMahon.
Kilpeder war eine Ansammlung von Dächern. Dahinter lag Ardmor wie ein verkrustetes Juwel – Gärten, See, das Haus selber, auf einem niedrigen Hügel, mit Blick aufs Wasser.
»Von der ursprünglichen Burg«, hatte der Muirhead ihm mitgeteilt, »ist nur noch die efeubewachsene Ruine des Bergfrieds übrig. Das heutige Schloß, erbaut 1720 nach einem Entwurf von Richard Cassels, ist ein schönes Gebäude im palladianischen Stil, dessen prachtvolle Fassade aus ungewöhnlich hohen und doch wohlproportionierten Fenstern einen unvergleichlichen Blick auf die stürmischen Derrynasaggart-Hügel bietet. Auch die berühmten Gärten wurden angeblich nach Cassels’ Entwurf angelegt, aber sie wurden durch den dritten Grafen nach romantischer Manier erweitert und verändert. Das Gelände enthält einen künstlich angelegten See und Wasserfall, von der Sullane gespeist, Scheunen und Melkhäuser im Schweizer Zierstil mit Stroh gedeckt, eine Grotte, Kräuter- und Irrgarten und ein Rotwildrudel. Ihre Anlage ist jedoch weder willkürlich noch gedrängt, so weiträumig ist die Domäne, und die Wirkung ist höchst angenehm. Schloß Ardmor ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich, aber das Gelände kann nach Absprache mit dem Gutsverwalter besichtigt werden.«
»Bis zu den Mauern der Domäne«, sagte MacMahon, und Prentiss sah ihn verwirrt an.
»Alles ist verkauft worden, weggeknabbert, mit Ausnahme der direkt bewirtschafteten Farmen und einer Handvoll von Gehöften mit langen Pachtzeiten. Und das neue Gesetz wird die auch noch erledigen, nehme ich an. Das Land der Ardmors liegt jetzt innerhalb dieser Mauern. Aber es ist schön, nicht wahr, wenn der See sich kräuselt und sich die Sonne in den Fenstern fängt.«
»Wirklich schön«, stimmte Prentiss zu, aber es war zu weit weg, und deshalb konnte er nicht mehr sagen. Seine Empfänglichkeit für diese großartigen Häuser stammte von einer sanfteren Insel voller kleiner Hügel und wogender Wiesen. Neben Ardmor Castle breitete sich Kilpeders niedriges Straßengewirr aus, durchbrochen von den Kirchtürmen an beiden Seiten des Ortes. Dahinter zogen sich die Felder zu dem Hügel hin, auf dem er jetzt mit MacMahon stand. Und hinter diesem Hügel, in geringer Entfernung, erhoben sich die Vorläufer jener Hügel, die der Muirhead zu recht als »stürmisch« bezeichnet hatte. Zwischen Hügeln und juwelenbesetzter Domäne schien es keine richtigen Verbindungen von Gefühl oder Landschaft zu geben.
»Wissen Sie«, sagte MacMahon, »in den Tagen der Fenier, in den Tagen des Aufstandes, war alles ganz anders. Damals bestimmten die Ardmors alles, sie und die kleineren Gutsbesitzer. Ihnen gehörte der Boden, so kam uns das damals vor, und alles, was darauf wuchs oder darüber flog. Damit waren wir aufgewachsen, wie vor uns unsere Eltern und Großeltern. Es war eine andere Welt.«
»Aber die Fenier haben nichts geändert«, erwiderte Prentiss. »Ein paar Kasernen und Stationen der Küstenwache wurden für ein paar Stunden eingenommen, es gab ein paar Handgemenge an Straßenkreuzungen. Und danach Prozesse und englische Gefängnisse.«
MacMahon lachte. »Nein, wir haben nichts verändert. Der Landkrieg hat die Änderungen gebracht, der Landkrieg und Parnell und die Boykottkampagnen. Aber es ist niemals leicht zu sagen, wo etwas anfängt. Bei Gott, Mr. Prentiss, einige Wochen lang haben wir sie trotz allem in Panik versetzt. Die Gutsbesitzer aus Limerick packten ihre Familien und ihr Erbsilber ein und brachten sich in Killarney in Sicherheit. Man kann nie wissen.«
»Aber jetzt sieht doch alles sicher fast so aus wie damals«, sagte Patrick Prentiss aus Dublin und Clongowes Wood, Oxford und London, ein Jahr in Paris, halb neidisch, wenn auch nur für den Moment, auf ein Leben, das unter dem einen Himmel gelebt worden war, in dem die Schatten des frühen Abends immer auf dieselben Hügel, Ecken von Scheunen und Läden, auf den Staub vertrauter Straßen, auf Generationen von Weißdorn gefallen waren.
»Das stimmt allerdings«, erwiderte MacMahon und fügte trocken hinzu, »aus dieser Entfernung.«
»Kilpeder selber«, hatte der Muirhead erzählt, der in dieser Hinsicht strenge Maßstäbe anlegte, »ist ein typischer Marktflekken des Südwesters, der dem Sommerfrischler wenig Interessantes zu bieten hat. Die Markthalle aus dem 18. Jahrhundert, elegant und nützlich zugleich, wird in der ›Klage um Art O’Leary‹ erwähnt, einem Gedicht in gälischer Sprache, das an eine lokale Tragödie des Jahres 1773 erinnert. Es wird Eibhlín Dubh Ní Chonaill zugeschrieben, O’Learys Witwe. Die große, imposante römisch-katholische Kirche wurde mit vielen neogotischen Verzierungen nach einem Entwurf von Pugin errichtet. Im Jahre 1867 kam es in Kilpeder zu einem Scharmützel zwischen den Krontruppen und den rebellischen Feniern, und in jüngerer Zeit hat man schwerwiegende politische und agrarische Unruhe durchmachen müssen. Inzwischen. ist der Ort wieder in seinen verschlafenen Zustand zurückgefallen. Reisende aus Cork oder Mallow können sich der beschwerlichen, jedoch pittoresken Straße bedienen, die durch die wilden Derrynasaggarts nach Kerry führt, und von dort entlang dem lieblichen kleinen Fluß Flesk zur Seenplatte von Killarney weiterfahren.«
»Da hinten«, sagte MacMahon und wandte sich von der Domäne ab, »im Dorf Turrist gibt es ein Hungergrab. Vielleicht möchten Sie es eines Tages besuchen. Das könnte Ihnen historische Perspektive vermitteln, wenn das der richtige Ausdruck ist.«
»Ja«, erwiderte Prentiss und überlegte sich flüchtig, wie der Muirhead diese Information wohl serviert hätte. Der Ausdruck selber, obwohl dünn und kühl, hatte für ihn keinen Widerhall.
Aber MacMahon konnte ein eingesunkenes Feld sehen, umgeben von einem niedrigen Zaun aus rostigem Eisen, das Gras hoch und ungemäht. Vielleicht hatte alles dort angefangen, dachte MacMahon, im Hungergrab. Wie viele lagen dort, zweihundert, drei? Vierhundert