Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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      Und damit hatte er allerdings recht. In wenigen Stunden würde ich vor meinen kleinen Schurken stehen, die Fibel in der Hand, die Rute in Reichweite, um jegliche Erhebung der Knechte zu unterdrücken, während Bob sich seine adrette grau-weiß gestreifte Schürze um die Taille binden und sich um die Bedürfnisse von Tullys Kunden kümmern würde. Diese Vorstellung konnte das Gefühl von Unwirklichkeit, das mich gepackt hatte, nicht vertreiben. Ist es wahrscheinlich, fragte ich mich, daß Irland von Schulmeistern und Ladenschwengeln befreit werden wird? Oder von sturen, verwirrten Bauernburschen wie Pat Dunphy, oder von Junkerimitationen wie Vincent? Irgendwann, vielleicht in einem Jahrhundert, mochte der Anblick, den wir im Moment boten, einen hübschen Stahlstich ergeben, die Fenier von Kilpeder versammelt vor einer Hütte in den Bergen, mit Bächen und Hügeln im Hintergrund, ruhige Entschlossenheit prägt unsere Züge. Aber die simple Wahrheit war, daß Vincent nicht die Polizei fürchtete, sondern den Zorn Dennis Tullys, und wer hätte ihm das verdenken können? Ich selber stellte mir voller Verzweiflung vor, wie meine Mary Sergeant Honan die Tür öffnete und wie seine mit Karabinern bewaffneten Männer sich hinter ihm drängten.

      Ein Blick auf Ned konnte diese böse Vorahnung jedoch weitgehend zerstreuen. Nicht nur, weil er fähig und entschlossen war, sondern auch, weil er zu uns als Sendbote der Organisation gekommen war, deren Netz sich über das ganze Land gelegt hatte und deren Zentren in Dublin und London und Manchester und New York saßen. Ich glaube, daß Ned in diesen Wochen für uns alle eine überlebensgroße Bedeutung hatte. Er verkörperte für uns das, was damals immer als »die Sache« bezeichnet wurde, ein Terminus, der heute altmodisch klingt, obwohl Politiker ihn immer noch lieben. »Die Sache, für die die Fenier in den Bergen gekämpft haben und gestorben sind«, erzählen sie uns, wenn sie unsere Stimme wollen – O’Brieniten und Redmonditen und Healyiten und all die anderen. Ich habe mich ihrer Werbung immer entzogen, obwohl ich kurze Zeit als einer der Kämpfer aus den Bergen, wie sie uns dann nannten, sehr gefragt war. Damals war alles ganz anders. Vielleicht lag es daran, daß wir jung waren.

      »Nun, Captain Nolan«, sagte Bob, als wir uns von ihm und Vincent verabschiedeten. »Du kannst auf eine Nacht guter Arbeit zurückblicken. Wir haben einen guten Anfang gemacht.« Er griff nach Neds Hand. Die beiden standen einen Moment lang in dieser Position und blickten einander in die Augen. Sie hatten Verständigungsmöglichkeiten, die mich einfach ausschlossen.

      »Grüß Kilpeder von mir«, trug Vincent mir auf. Er wirkte so munter wie eh und je. Es sah fast aus, als ob er beschlossen hätte, das Wochenende bei einem Freund zu verbringen, in der Hoffnung auf einen Morgen voller Jagdglück.

      Als Bob und Pat und ich ein Stück die Boreen hinabgegangen waren, wandte ich den Kopf, um einen letzten Blick auf sie zu werfen. Vincent war nicht zu sehen. Vielleicht war er in die Hütte zurückgegangen, um sein neues Quartier zu inspizieren, Gott sei ihm gnädig. Ned stand halb von uns abgewandt da, eine schlaksige Krähe von einem Mann. Er schaute nach Norden, in Richtung Millstreet, bewegungslos wie eine Statue.

      »Ein guter Anfang«, sagte ich zu Bob und zitierte damit seine eigenen Worte, die er zu Ned gesagt hatte.

      »Hier«, erwiderte Bob. »Hier hat es gut angefangen. In Kilpeder.« Mehr sagte er nicht.

      Bei der Kreuzung nach Killoughter verabschiedete sich Pat, um die fünf oder mehr Meilen zu seiner Farm zu Fuß zurückzulegen. »Wir sind jetzt für den festgesetzten Tag gerüstet, Bob, nicht wahr?« sagte er.

      »Das sind wir wirklich«, antwortete Bob, »wenn wir erst einmal gelernt haben, wie wir mit diesen Donnerbüchsen und Pferdepistolen und tragbaren Kanonen umzugehen haben.«

      Dunphy lachte, mit weit gespreizten Beinen, und stemmte die Hände auf seine kräftigen Hüftknochen. »Eins steht fest, Bob«, sagte er, »wenn alle Kolonnen solche Kommandanten haben wie Nolan, dann wird unser armes Land frei sein.«

      Aber als wir beide dann unter uns waren, fragte ich Bob unverblümt: »Was ist los mit dir?« Jetzt war es klarer Morgen, helle, funkelnde Luft, der blaßblaue Himmel wurde nur von wenigen Wolken durchbrochen, die sehr hoch hingen und flauschig wie Watte waren.

      »Gar nichts«, antwortete Bob, wandte seinen Blick von mir ab und ließ ihn über ebene Weiden zu einer Hütte in der Ferne schweifen. »Rein gar nichts, außer panischer Angst und bösen Vorahnungen.« Dann lachte er und drehte sich wieder zu mir um, um sich von der Wirkung seiner Worte zu überzeugen.

      »Du zitterst nicht«, sagte ich zu ihm, »jedenfalls nicht so, daß es zu sehen wäre.«

      »Das ist auch nicht meine Art«, erwiderte er, und das stimmte. »Er ist nicht so beschaffen wie wir anderen«, sagte er, »wie du und ich und Vincent. Er ist wie einer dieser Revolver, die jetzt bei Laffan liegen.«

      Als Bob das sagte, befand ich mich wieder im Hinterzimmer meines Hauses, damals in der ersten Nacht, und Ned, der noch ein Fremder für mich war, hielt in der Hand den amerikanischen Revolver, wuchtig, aus dunklem Metall, mit seiner großen, mörderischen Mündung.

      »Das brauchen wir«, sagte ich, und Bob nickte geistesabwesend.

      »Aber sicher«, stimmte er zu, und wir wanderten eine Weile in geselligem, besorgtem Schweigen weiter. Aber seine Worte brachten andere Gefühle in mir zum Klingen, und sie versetzten dem hellen Morgen einen Dämpfer.

      »Wir haben ein faire Chance«, sagte Bob, eher zu sich selber als zu mir. »Und auf mehr haben wir nie gehofft, eine faire Chance.« In Wahrheit hatten wir jedoch auf sehr viel mehr gehofft. Vor zwei Jahren, an einem milden Nachmittag im März, als wir nach Cork gereist waren, um den Eid abzulegen, war viel von Männern und Gewehren und Gold die Rede gewesen, die aus Amerika zu uns herüberströmen würden, wenn der große Krieg dort drüben erst einmal vorbei war. Und noch letztes Jahr hatten die loyalistischen Zeitungen sich in die Panik hineingesteigert, die Waffen könnten schon in Irland sein, zusammen mit Tausenden von Soldaten, während die Agenten der Fenier die Moral unserer irischen Jungen in den britischen Regimenten zersetzten. Eine der großen illustrierten Zeitungen Londons hatte eine ganze Seite für einen phantasievollen Stich reserviert, auf dem ein Dampfschiff in einer wilden, einsamen Bucht im Westen beidrehte; schwarze Sturmwolken hingen am Horizont, und massive, unheilschwangere Berge drängten bis an den Strand vor. Boote ruderten zum Schiff hinaus, um die geölten und in riesige, sarggroße Kästen verpackten Gewehre zu übernehmen. Und das alles war so sehr geschrumpft, daß es in Laffans Hütte paßte, geschrumpft zu Neds Abteilungen, die eine Armladung von Entenflinten durch die weite, sternlose Nacht trugen, während schwache Laternen ihnen den Weg wiesen.

      Nun aber war Tageslicht, der Duft nassen Grases hing in der Luft, und Bob und ich konnten der ganzen Welt als zwei müßige junge Burschen erscheinen, die über die Landstraße nach Kilpeder gingen. Die Straße ist immer noch vorhanden, natürlich, warum auch nicht, und in späteren Jahren bin ich sie oft gegangen und habe mir diesen Morgen in Erinnerung gerufen. Die Straße ist noch vorhanden, die Weiden, die schwarz grauen Zäune und entweder noch dieselben Hütten oder ihre Nachfolgerinnen. Es ist die Vergangenheit, die verschwunden ist, meine eigene Vergangenheit und die des Landes.

      Es gibt Menschen, die die Ereignisse, zu denen wir noch kommen werden, als »glorreichen Mißerfolg« bezeichnet haben und sie in die rosagetönten Nebel der Sage hüllen, hinter denen die sich bewegenden Gestalten nur vage erahnt werden können. Und es gibt andere, die sich darüber lustig machen und die uns, die in Limerick und Tipperary und West Cork losgezogen sind, als unwissende und unbesonnene Leute schmähen, betrogen von gefühllosen und halbbetrunkenen Abenteurern, betrogen wie die Dienstmädchen in New York und die Hafenarbeiter von Liverpool, wenn sie ihre verdreckten und zusammengefalteten Dollarscheine spendeten, ihre verschmierten Schillinge, damit die Fenierführer sicher und angenehm im Hotel ihrer Wahl logieren konnten. Gelehrte und vernünftige Historiker werden uns zweifellos eines Tages in einer bis jetzt noch unvorstellbaren Perspektive sehen, schwarze Ameisen allesamt, die durch das Säulengebälk der Geschichte krabbeln – Fenier und Polizisten und Soldaten und Großgrundbesitzer und Landarbeiter.

      Nur einmal, und dann nur für einige Wochen, hat mein Leben das Leben der Geschichte gestreift. Für Ned Nolan und Bob Delaney war es anders. Sie waren gezeichnete Männer: Die Geschichte hatte sie in Besitz genommen. Aber ich sollte in die Geschichte