Pächter der Zeit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711483978
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vorbei, das gegenüber der Parkeinfahrt lag, graue, massive Steine, hohe abwehrende Mauern, bedeckt von wütenden Glasscherben, bewaffnete Wachtposten an den düsteren Toren.

      Aber damals war Prentiss ein Junge gewesen, nicht der junge Gelehrte aus Clongowes Woods, der im Licht der grünen Lampenglocke neben dem Schreibtisch seines Vaters im Arbeitszimmer stand.

      »Nein«, sagte er. »Ich kann mich nicht an Mr. Delaney erinnern.«

      »Schade«, erwiderte sein Vater trocken. »Er wird so bald wohl nicht mehr bei uns essen. Mr. Delaney hat sich dafür entschieden, Mr. Parnell in die Wüste zu folgen.«

      Nun, in der Gegenwart, in der Prentiss und sein Vater sich im Arbeitszimmer unterhielten, hatte sich alles geändert. Parnell war nicht mehr der ungekrönte König. Er war auch im Souterrain nicht mehr Kateys Held, denn in Palmerston Park war die Politik monolithisch. »Da war ein Tropfen schlechtes Blut«, sagte sie rätselhaft. »Irgendwo war da ein Tropfen schlechtes Blut.« In der Dubliner Innenstadt, auf der breiten Sackville Street, hinter der riesigen Statue von Daniel O’Connell, dem Befreier, kam es zu Handgemengen zwischen den beiden Parteien, denen, die trotz allem Parnell unterstützten, und seinen Gegnern. Hüte wurden mit Holzstangen heruntergeschlagen, und die berittene Dubliner Polizei ritt hin und her, brüllte, beugte sich von den Pferden und schwang ihre langen, bleiverstärkten Knüppel, um Ordnung zu halten. Einmal hatten, zur Teezeit, Prentiss und seine Mutter so einem Handgemenge von den hohen Fenstern des Imperial Hotel, gegenüber den weißen Säulen des Hauptpostamtes, zugesehen. Sie und die anderen Gäste hatten entsetzt und fasziniert an den Fenstern gestanden, während die beiden Menschenmengen um Lord Nelson auf seiner hohen Säule wogten, auf die seine großen Siege an den vier Seiten des Sockels eingemeißelt waren, Trafalgar und die anderen. »Da haben Sie’s«, hatte eine der anderen Damen zu seiner Mutter gesagt, »das Land hat sich in das reine Tollhaus verwandelt.« Seine Mutter hatte nicht geantwortet, und als Prentiss sich zu ihr umgedreht hatte, hatte er gesehen, wie sie sich auf ihre vollen Lippen biß und daß ihr die Tränen in den Augen standen.

      »Für diese Burschen war es viel einfacher«, sagte sein Vater. Er strich mit der flachen Hand über die Illustrated London News. Er blätterte die großen, breiten Seiten um.

      »Da«, meinte er dann, als er eine weitere Seite umgeschlagen hatte, »das war die Schlacht hier bei uns, in Tallaght.« Das Bild der Schlacht bedeckte die ganze Seite. Unter einem Winterhimmel zielte und feuerte eine Reihe von Soldaten, oder vielleicht von Polizisten. Hinter ihnen, schemenhaft und vage, hinter dunklen Gebäuden und blattlosen Bäumen, war ihr Ziel eine undeutliche Masse. Und in der Ferne, tief über einem nahen Horizont, waren die Dublin Mountains zu sehen. »Das war der große Aufmarsch der Fenier«, sagte sein Vater. »In Tallaght.« Tallaght war nicht weit von ihnen entfernt, eine kurze Fahrt von Palmerston Park brachte sie in die sanft abfallenden Vorhügel, in das Dorf mit seinen Vorstadtvillen. »Die Irish Constabulary, so hießen sie damals«, erzählte sein Vater weiter. »Die Königin hat ihnen als Belohnung für ihre Dienste im Kampf gegen die Fenier das königliche Adjektiv verliehen. The Royal Irish Constabulary. Sie haben die Fenier niedergeschlagen, nicht die Armee.« In der nächsten Nummer der Illustrated News gab es noch einen ganzseitigen Stich.

      »Gefangene Fenier werden in Dublin auf dem Weg zum Mountjoy-Gefängnis aus dem Lower Castle geführt.« Eine schöne Wiedergabe vom Dublin Castle, von dem alten, zinnenbewehrten Turm und der Kapelle. Der Hof war übersät von Kavallerie und Infanterie; dahinter befand sich eine Menge gaffender Zuschauer mit gereckten Hälsen. In der Mitte, fast nicht zu sehen, und zu beiden Seiten durch Doppelreihen von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, stand eine Menge grobgekleideter Männer, die aus Trotz oder Scham ihre Köpfe gesenkt hatten.

      »In der Tat«, sagte sein Vater. »So ist das damals gewesen.« Geistesabwesend klappte er das Buch wieder zu. Auf dem lila Hintergrund regierte die siebenfach gekrönte goldene Königin über die Ereignisse der Welt. Die Vergangenheit war wieder in brüchige Seiten eingesperrt, um neben die gebundenen Jahrgänge von Punch zurückgestellt zu werden. Allerdings nicht endgültig. Denn an den Tisch im Palmerston Park war der weißbärtige O’Brien getreten, der zum Hängen, Strecken und Vierteilen verurteilt worden war, und Delaney, an den Prentiss sich nicht erinnern konnte, dem seines Vaters Worte jetzt jedoch einen düsteren Glanz verliehen hatten, ein Anhänger Parnells, dieses gefallenen Luzifers.

      »Es war alles hoffnungslos, weißt du, Patrick« sagte sein Vater. »Vereinzelte Aufstände, Schießereien, einige Tote. Wie der Aufstand des armen Emmet ein halbes Jahrhundert zuvor. Als alles vorbei war und die armen Teufel tot waren oder auf ihren Prozeß warteten, kam ein mit Waffen beladenes Schiff aus den USA an. Und das ausgerechnet in Sligo. Das Kriegsschiff der Fenier wurde es genannt. Seltsam, daß die Illustrated News kein Bild davon hatten.« Normalerweise machte sein Vater sich bald wieder an die Arbeit, um Prentiss zu verstehen zu geben, daß das Gespräch beendet war. Nun jedoch wirkte er zerstreut.

      Das Sonnenlicht des Sommernachmittags fiel durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen ins Zimmer. Bald würden sie in die Ferien fahren, sein Vater, seine Mutter, er selber und Elizabeth, seine Schwester. Dieses Jahr sollte es nach Italien gehen, ein Land, das außer seiner Mutter niemand von ihnen bisher besucht hatte. Als junges, eben erst aus der Nonnenschule entlassenes Mädchen war sie mit ihren eigenen Eltern dort gewesen und hatte Erinnerungen an enge, steile Straßen, kühle, schattige Kirchen und die unermeßliche Weite des Petersdoms zurückgebracht.

      »Sie mußten entsetzlich leiden im Gefängnis«, erzählte sein Vater. »Die Engländer haben sie barbarisch mißhandelt. Als junger Jurist war ich beim Amnestie-Komitee. Ich erinnere mich an die ersten Entlassungen – O’Leary, Luby, Devoy.« Er sah, daß Prentiss ihn scharf musterte und lächelte. »Wir sind ein seltsames Volk, Patrick. Kein Wunder, daß die Engländer uns nicht verstehen können.« Er nahm seine Feder auf, berührte ihre Spitze mit dem Zeigefinger und tauchte sie dann in sein elegantes Tintenfaß aus Messing und Malachit. »Tapfere Männer«, sagte er. »Tapfere, unwissende Männer.« Dann senkte er seinen Löwenkopf wieder über die Arbeit.

      Die Hitze des Sommers von Devon war fast greifbar, eine dicke Decke aus unbeweglicher Luft. Kirche, Brücke, Bach, Pfad, die bewegungslosen Farne, wie elegante tiefgrüne Stickereien, das Summen der Bienen, das der schweren Luft eine Stimme zu geben schien, das alles erzählte ihm von einer geordneten Welt, einer geordneten Geschichte. Dieser Anblick mit seiner salbungsvollen Harmonie mißbilligte den zerrissenen Bericht, den er zusammenzüstückeln versucht hatte. Bald würde in Dick Leeses Pfarrhaus der Tee warten, in diskreter Entfernung von der Kirche im Garten aufgetragen, in der Nähe der Beete mit den roten und rosa Rosen, und die Hände der jungen Eleanor Leese würden wie weiße Vögel über die Tassen huschen. Die Fenstertüren, die vom Arbeitszimmer in den Garten führten, würden weit aufgerissen sein, und im dunkler werdenden Zimmer würden die Bücherregale im Schatten liegen. Die Kirchenväter und die neuen Romane aus Paris standen dort nebeneinander. Die Kirche selber stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber Dick konnte ihre Geschichte bereits aus dem Ärmel schütteln: die Namen ihrer Erbauer, der Edwardianischen Reformer, die Statuen und Altarbilder entfernt hatten, Heilige aus Stein und Gips, blau angemalt und vergoldet, die wild durcheinander neben den Gittern gelegen hatten, die lange Schläfrigkeit des 18. Jahrhunderts mit seinen trinkfesten, rotgesichtigen Pastoren, der Fast-Skandal eines Ritualisten aus der Oxford-Bewegung um 1850, Mrs. James in den 80er Jahren, die farbenfrohe indische Schals getragen hatte und verrückt geworden war, ihr gelehrter Ehemann, der seine Geschichte der Pfarre niemals vollendet hatte. In England war die Geschichte eine gütige Meereskreatur mit trägen, besonnenen Bewegungen, deren Umfang sich Schicht um Schicht ausdehnte, ein schillernder Panzer. Irische Geschichte, seine eigene Geschichte, bestand aus Scherben, Fragmenten, den zusammengestürzten Steinen zerstörter Abteien, Burgen. Hier bestand kein Bedarf an Mr. James’ unvollendeter Chronik der Pfarre, sie blühte in den gepflegten Gärten, sie flüsterte in der kühlen grauen Stille der Kirche, deren Gottesdienst Prentiss an diesem Sonntag besucht hatte, ein verkleideter Papist, der der Predigt seines Oxforder Freundes lauschte, einem milden einschläfernden Kommentar zu einer Bibelstelle. Prentiss saß inmitten der Gemeinde, Grundbesitzern, Anwälten und Ärzten, wohlhabenden Farmern, Dienstboten.

      Nun, auf dem Rückweg, wandte Prentiss sich vom Bach ab, kehrte Brücke und