Endlich hatten wir die letzte Straßenkreuzung vor der Stadt erreicht, die sich auf einer leichten Anhöhe befindet, und zwischen uns und dem Marktplatz lag nur noch ein Spaziergang von zwanzig Minuten. Wir blieben stehen, Bob wandte sich zu mir um und zitierte Tom Moore falsch, den Favoriten unserer Donnerstagabende, wenn wir um das Klavier standen, Bob und Vincent und ich selber, während Mary vor dem Instrument saß und ihre Hände über die Tasten flogen und Kerzen zu ihren beiden Seiten sanft leuchteten. »The Valley lay smiling before us«, sagte Bob und lächelte mich an, als ob er meine Erinnerung teilte, die Noten der Melodie und das flackernde Kerzenlicht miteinander verflochten, und unsere Stimmen hielten uns in Freundschaft verbunden. Von unserem Standpunkt aus konnte ich unser Haus sehen, warm und lockend, weit weg von Laffans einsamem Berghang und der Arbeit der Nacht, die hinter uns lag. Es war jedoch die Arbeit dieser Nacht, die in der Erinnerung weiterleben sollte, in der Baronie und weit über ihre Grenzen hinaus, da die menschliche Natur nun einmal so ist, wie sie eben ist.
In search of arms he sallied forth, brave Dunphy at his side,
»Rise up, rise up, ye Fenian men, defeat we’ll not abide.
With weighty lead and dauntless steal, we’ll face them as we should.«
Thus Nolan bold, ’neath green and gold, marched towards Clonbrony Wood.
So ist es zweifellos mit den Annalen aller Nationen. Schulmeister und Ladengehilfen und Krautjunker in ihren Westen mit Zweigmuster sind kein Stoff für Balladen, anders als die Revolverhelden, die auftauchen und wieder verschwinden, und die gutherzigen jungen Burschen, die am Ende des Gefechtes auf dem harten Boden liegen und den Schnee mit ihrem Blut beflecken.
7
[Patrick Prentiss]
Eines Sommernachmittags, als Patrick Prentiss sein Manuskript und die Anhäufung von Notizbüchern und Aufzeichnungen, aus denen er dieses zusammenbaute, für einige Tage beiseite gelegt hatte, schwebte unaufgefordert eine Erinnerung vor sein geistiges Auge.
Er verbrachte eine Woche bei seinem alten Kommilitonen Dick Leese in einem Dorf in North Devon, einige Meilen von Taunton entfernt, einem Dorf, das so zahm und gemütlich war wie ein viktorianischer Bilderbogen: Kirche, Pfarrhaus, Gasthaus, Kolonialwarenladen, Tuchhändler, alles hintereinander an einer sanft geschwungenen Landstraße gelegen. Sein Freund und die meisten der Nachbarn seines Freundes hielten Bienen, und in der schläfrigen Nachmittagssonne verschmolz ihr Summen in seiner Wahrnehmung mit dem Duft von Klee und jungem Gras. Kilpeder, mit seinem schäbigen Marktplatz und seinen schroffen Hügeln, schien so weit entfernt wie die Pole. Leeses Garten endete hinter dichtbelaubten Dornsträuchern an einem Bach, an dem ein sandiger Fußweg entlangführte. Eine Viertelmeile bachabwärts erhob sich eine kleine Brücke, bucklig, aber doch elegant, über dem Wasser. Er ging immer eine Stunde vor dem Tee dorthin, eine Stunde schwer von Klang und Geruch, von der Schwere einer sicheren und gesetzten Welt, und der viereckige Kirchturm war über den breiten Kronen der Ulmen gerade noch zu sehen.
An diesem Tag machte eine Erinnerung ihm zu schaffen, sanft und ohne Grund. Es war Sommer, er war aus der Schule nach Hause gekommen, er stand im Arbeitszimmer seines Vaters in Palmerston Park. Sein Vater saß, mit dem Rücken zum Fenster, hinter seinem riesigen Schreibtisch und machte sich Notizen mit seiner ruhigen Hand, die er regelmäßig hob, um die Feder ins Tintenfaß zu tunken. Seine andere Hand ruhte flach auf dem Schreibtisch, er strich sich jedoch damit von Zeit zu Zeit über den glatten, seidigen, inzwischen graugesprenkelten Bart. Auf der anderen Seite des Zimmers beim kalten Kamin saß Patrick auf dem Boden, mit dem Rücken an einen Stuhl gelehnt. Er war sehr still. Das war ihr Brauch, akzeptiert durch einen ungeschriebenen Vertrag. Er war willkommen in diesem Arbeitszimmer; seinem Vater gefiel es, wenn er dort war, und er blickte Patrick ab und zu an und lächelte. Aber Patrick durfte nichts sagen, erst wenn sein Vater seufzte, sich streckte und die Feder wieder in ihr Gestell setzte. Patrick hatte die Bücher zur Gesellschaft, Reihe um Reihe, die höchsten Regalfächer waren für ihn unerreichbar, während die besten Bücher dicht am Boden standen, hohe Folianten, die Reisen in die Levante, zum Amazonas, nach China schilderten und reich illustriert waren. An dem Nachmittag, an den er sich jetzt erinnerte, hatte er neben sich einen alten, gebundenen Jahrgang der Illustrated London News liegen, ein riesiges, in lila Steifleinen gebundenes Buch, auf dessen Einband, goldgestanzt, die Königin saß, einen langen, blattbewachsenen Zweig in jeder Hand, unter einem Halbkreis aus sieben Kronen. Er nahm jedenfalls an, daß es sich um die Königin handelte. Er traute sich nicht zu fragen.
Es war, wie er später begreifen sollte, Parnells Sommer, im Oktober würde Parnell tot sein. Aber während des ganzen Sommers kehrte er Woche für Woche nach Irland zurück, in seinem wilden, verzweifelten Kampf um die Wiedereroberung der Sache, die er einst beherrscht hatte, und sprach auf schäbigen Podien, bei tropfendem Fackellicht, geschützt von seiner Leibwache aus schlagkräftigen Feniern, vor feindseligen Zuhörern; Hohngeschrei, Lehmklumpen wurden aufs Podium geschleudert, auf den großen wütenden Redner mit seinem ungekämmten Bart, seiner vom Schreien heiseren Stimme. Das ganze Melodrama, von dem Prentiss später erfuhr. Aber es sickerte, wie der Rauch des im Herbst verbrannten Laubes, in das Haus im Palmerston Park, beim Essen oder bisweilen beim ersten Frühstück, wenn Kollegen seines Vaters vorbeischauten, ehe sie sich alle auf den Weg zum Gericht machten.
»Er ist verrückt geworden«, sagte sein Vater eines Morgens – und in jenem Sommer war mit diesem Pronomen immer Parnell gemeint. »Ich meine das im wahrsten Sinne des Wortes. In seiner Familie hat es immer Irrsinn gegeben. Die Partei zu zerreißen, das Land zu zerreißen. Und wer wird davon profitieren? Die Tories, natürlich. Die Großgrundbesitzer und die Londoner Bankiers. Wir haben ihn gemacht, bei Gott, und wenn es nötig ist, dann können wir ihm beweisen, daß wir ihn auch wieder zerstören können. Unsere eigene Schuld – zehn Jahre lang haben wir ihn wie eine Art ungekrönten König behandelt.«
»Nun ja«, sagte ein Freund eines Morgens und hielt dem Dienstmädchen seine leere Tasse hin. »Jetzt hat er ja eine ungekrönte Königin, die ihn trösten kann.« Aber Patricks Vater hatte, ohne zu lächeln, warnend zu dem lauschenden Jungen hinübergenickt.
Die Welt lag in diesem lila Steifleinen-Folianten vor ihm – ein großes Schiff lief in New York vom Stapel, das italienische Abgeordnetenhaus, die Seychellen, der Kristallpalast in London nach einem heftigen Schneesturm, schwere weite Schneedecken verbargen Glas und Eisen, Kaiser und Kaiserin von Frankreich in den Tuilerien, der Kaiser in Uniform und mit Spitzbart, die Kaiserin in enggeschnürter Krinoline mit einem Diadem im Haar. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war Frankreich kein Kaiserreich mehr. Napoleon III. war tot, und seine Kaiserin wurde alt, irgendwo in England. Die Seiten drohten sich aufzulösen, als Prentiss eine nach der anderen umblätterte. Plötzlich lag das Vertraute vor ihm, bescheiden und verwirrend.
Eine ganze Seite war einem Dorf gewidmet, das wie jedes Dorf in Irland aussah, bedeutungslos in seiner Vertrautheit. Eine ungepflasterte Straße, daneben eine zerbröckelnde Mauer, hinter der Mauer eine viereckige Kaserne, neben der Kaserne zwanzig Mann in schwarzen Umhängen, Gewehre an die Schultern gelehnt, lässige Haltung. Ein Uniformierter, an dessen Seite ein Schwert baumelte, sprach mit Zivilisten mit Zylinderhüten. Auf der anderen Seite der Straße hatten sich auf einem Feld Bauern versammelt und starrten zur Kaserne herüber, die Frauen barfuß und in ihre Schals gehüllt, die Männer in verschlissenen Hosen, zerbeulten Hüten, einer von ihnen hielt eine Tonpfeife zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen. In der Ferne