Kranichtod - Ein Fall für Julia Wagner: Band 5. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643107
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zu erkennen. Unheimlich und gleichzeitig wunderschön wirkte der Ausblick, wie aus der Wirklichkeit herausgelöst.

      Eva zog ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich. „Unter anderen Umständen würde ich Fotos machen und sie mir zu Hause an die Wand hängen.“ Sie steckte das Taschentuch zurück in die Jackentasche und sah sich um. „Also, wonach könnten wir hier suchen? Nach einer Notiz? Einer Botschaft?“

      „Ich weiß es nicht. Ich …“ Julia stockte. „Hörst du das?“

      „Was?“

      „Diese Melodie.“

      „Was für eine Melodie?“

      Julia starrte Eva an. „Hörst du es denn nicht?“

      „Nein. Ich höre nichts, nur den Wind.“

      Julia stand völlig starr. „Jetzt ist es wieder weg. Ist das dein Ernst? Du hast es wirklich nicht gehört?“

      „Nein, wirklich nicht.“

      Langsam schüttelte Julia den Kopf. „Dann habe ich es mir wohl nur eingebildet. Ich bin ja im Moment auch nicht gerade berühmt für meinen klaren Verstand.“

      „Was war es für eine Melodie?“, wollte Eva wissen. „Hast du sie erkannt?“

      „Nein, es war keine … bestimmte Melodie. Es klang so, als ob …“ Noch einmal schüttelte Julia den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich habe es mir wohl wirklich nur eingebildet.“

      Einen Moment lang sah Eva sie prüfend an. Dann sagte sie: „Okay. Und was jetzt?“

      „Hm.“ Julia senkte die Taschenlampe und leuchtete den Boden ab. „Ich weiß nicht.“ Sie leuchtete die Wände ab. „Ich sehe hier beim besten Willen keine Stelle, an der man etwas verstecken könnte. Ich sehe nur festen Stein auf Stein.“

      „Aber warum steht dann ‚Seelenturm‘ auf dem Medaillon?“

      „Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich mich ja auch geirrt.“

      „Zeig es noch mal.“

      „Was?“

      „Das Medaillon.“

      Julia zog es erneut aus ihrer Jackentasche. Um es besser greifen zu können, zog sie dieses Mal die Handschuhe aus. Sofort traf die eisige Luft ihre nackten Finger und gleich darauf fühlten sie sich schon steif an.

      Und dann geschah etwas Merkwürdiges. Etwas Unglaubliches. Etwas, was sie niemals geglaubt hätten, wenn sie es nicht selbst gesehen und erlebt hätten: Ein leises ‚Klick‘ war zu hören.

      „Hast du das auch gehört?“, fragte Julia tonlos.

      Eva nickte. „Dieses Mal hab ich es auch gehört. Was war das?“

      „Das Medaillon. Ich glaube, der Mechanismus hat sich gerade bewegt.“

      In der nächsten Sekunde sprang das Medaillon auf. Julia erschrak so sehr, dass sie es um ein Haar fallen gelassen hätte. „Ach, du …!“ Sie starrte auf das geöffnete Schmuckstück. „Das ist … Es ist ein Kompass! Die Nadel zeigt nach Norden.“ Sie hob den linken Zeigefinger und deutete in die Richtung, in die die Nadel zeigte. „Da. Da vorne muss es sein.“

      „Was?“, fragte Eva.

      „Das Ziel. Offenbar war der Turm nur eine Zwischenstation.“ Julia setzte den Seesack ab, öffnete ihn, holte ein Fernglas heraus und hielt es an die Augen.

      „Siehst du etwas?“, fragte Eva nach ein paar Sekunden.

      „Nichts. Nur Bäume. Nein, warte … da ist ein Haus! Das könnte es sein.“

      „Was meinst du, wie weit es bis dahin ist?“

      „Schwer zu sagen. Ungefähr einen Kilometer.“

      „Na dann …“ Eva war schon an der Treppe. „Los!“

      Es wurde ein beschwerlicher Marsch.

      Ein wirklich beschwerlicher Marsch.

      Sie kamen nur mühsam voran, bewegten sich wie zwei Zombies, fielen mehr als einmal fast über ihre eigenen Füße, und die Stöße des eisigen Windes, die weiter unablässig in ihre Gesichter peitschten, waren am Ende kaum noch zu ertragen.

      Doch schließlich erreichten sie das Haus. Ein nicht sehr großes, schmuckloses Gebäude, das alt und schief war, und offenbar nie einen Tupfer Farbe gesehen hatte.

      „Hier möchte ich nicht wohnen“, schnaufte Eva. „Hier ist ja weit und breit nichts.“ Sie wollte weitergehen, doch Julia griff nach ihrem Arm, um sie daran zu hindern.

      „Was ist?“

      „Die Tür ist offen.“

      Eva runzelte die Stirn. „Was kann das bedeuten?“

      „Es bedeutet, dass du erst einmal hier stehen bleibst.“ Julia griff nach ihrer Pistole. „Ich meine es ernst, Eva. Du bleibst genau hier stehen und bewegst dich nicht von der Stelle.“

      Als Eva nickte, setzte sie sich in Bewegung. Pistole und Taschenlampe im Anschlag, drückte sie mit der Schulter die Tür auf und betrat das Haus.

      Es schien niemand da zu sein. Im Lichtkegel ihrer Taschenlampe sah Julia jedoch, dass der Raum, der offenbar als Wohn- und Esszimmer diente, völlig verwüstet war. Die Möbel waren zerbrochen, Regale umgekippt, die Holzböden teilweise herausgerissen, die Schränke auseinandergenommen.

      Wer immer hier gewütet hatte, hatte wirklich alles zerstört.

      Vorsichtig machte Julia einen weiteren Schritt in das Haus hinein. Es war so kalt, dass sie ihren eigenen Atem sehen konnte. Vor ihr auf dem abgenutzten Teppichboden befand sich etwas, das aussah wie Erbrochenes, das festgefroren war. Sie machte zwei weitere Schritte, und während sie über eine zerbrochene Lampe stieg, nahm sie aus den Augenwinkeln für den Bruchteil einer Sekunde ein hässliches Gemälde mit Engeln wahr, das an der Wand hing. Es bestand aus fürchterlich bunten Farben und die Engel wirkten wenig Vertrauen einflößend. Das Einzige hier drinnen, was nicht zerstört worden war.

      Es war wirklich nur der Bruchteil einer Sekunde, und vielleicht hätte Julia mehr darauf geachtet, wenn sie nicht im nächsten Moment mit dem Lichtstrahl der Taschenlampe die gegenüberliegende Wand angeleuchtet – und Eva, die in der Tür stand, nicht aufgeschrien hätte.

      Aus Evas Gesicht war alle Farbe gewichen. Zitternd lehnte sie sich an den Türrahmen.

      Julia hätte das auch gerne getan, aber da wo sie stand, gab es nichts zum Anlehnen. Was sie sah, drehte ihr den Magen um: Ein toter Körper, der offensichtlich an die Wand genagelt worden war. Der Körper eines Mannes. Er hing dort, mit ausgebreiteten Armen, wie Jesus am Kreuz, und seine offenen Augen starrten ins Leere.

      Eva begann zu husten und hektisch in der Jackentasche nach ihrem Asthmaspray zu suchen.

      Julia sah sie an. „Kriegst du einen Anfall?“

      Husten und Röcheln war alles, was sie zur Antwort bekam. Evas Kopf war jetzt nicht mehr blass, sondern hochrot. Als sie das Spray gefunden hatte, umklammerte sie es mit beiden Händen und inhalierte tief. Dann überfiel sie ein weiterer Hustenanfall, und einen Moment lang dachte Julia, Eva würde ersticken, aber dann bekam sie sich wieder in den Griff. Das Röcheln blieb, aber der Atem wurde wieder gleichmäßiger. Noch einmal inhalierte sie. Dann setzte sie an: „Waren das …? Das waren die … Kraniche, oder? Nur die Kraniche können … so etwas tun!“

      Julia antwortete nicht darauf. Sie machte einen Schritt auf die Leiche zu und blieb dann wieder stehen. Sie wusste, dass sie sie nicht berühren durfte, ebenso wie sie aus ihrer Erfahrung als Polizistin wusste, dass dieser Mann schon lange tot war, dass er schon seit vielen Stunden so an der Wand hing und dass hier nichts mehr zu machen war. Ebenso wie sie wusste, dass sie so schnell wie möglich wieder von hier verschwinden mussten. Trotzdem machte sie noch einen weiteren Schritt und stellte fest, dass sich der erste Eindruck bestätigte: