Daß aber jene Inseln dann für viele hundert Jahre wieder in die Vergessenheit sanken, zeugt von der Gründlichkeit und Brutalität römischer Ausrottungstechnik. Keine Atombombe hätte auslöschender verfahren können. Die Karthager waren ihnen mit üblem Beispiel vorangegangen, hatten sie doch von dem alten Tartessos in Spanien, der anscheinend größten Handelsmetropole des Altertums, einer von atlantischem Ausmaße – König Salomo sogar bezog vieles daher –, kaum die Erinnerung übriggelassen. Doch ging das, was die römischen Militärs besorgten, bestimmt weit über das Wirtschaftsinteresse ihres Landes hinaus. Es mag aber auch sein, daß die karthagischen Marinebehörden selber, als nichts mehr zu retten war, für die restlose „Entwirklichung“ aller Konstruktionsunterlagen, Frachtlisten, Seekarten, Segelanweisungen und Kapitänsberichte gesorgt haben, zumal derlei Unterlagen sowieso Geheimdokumente des Staates waren.
Erst 1341 wurden die Kanarischen Inseln von den Portugiesen wiederentdeckt. Doch ist nicht ausgeschlossen, daß sowohl Araber als auch Normannen nicht nur Teneriffa, Gran Canaria und Madeira, sondern gelegentlich auch die Azoren schon vorher besucht haben. Jeder Tag kann aufklärende Funde ans Licht bringen. Noch ist es vielleicht verfrüht, gewisse Bandornamente auf Kultgefäßen und in Felsenzeichnungen atlantischer Küsten als Hinweise auf Meeresströmungen zu deuten. Auch ist es allzu verlockend, die bis ins Mittelalter reichenden Ansichten, das feste Land sei vom Okeanos wie von einem unermüdlichen Flusse umgeben, auf den Kreislauf des Golfstromsystems umzumünzen.
Begeben wir uns daher von den frühen Ahnungen, Tlaloca, denen du sicher faßbare Gestalt geben könntest, wolltest du nur reden, über lange Epochen des Nichtwissens hin in die Zeit, da du den Abendländer so weit aufgeheizt hattest, daß er statt deiner zu reden begann.
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Der 13. September 1492 wird in der Ozeanologie denkwürdig sein als der Tag, an dem die erste uns überkommene Aufzeichnung über eine nordatlantische Strömung gemacht wurde. Da schreibt ein Weberssohn aus Genua, der aufgeweckt genug war, lesen und schreiben gelernt zu haben, und unruhig genug, um nicht Genüge zu Hause zu finden, und phantastisch genug, seinen Namen Colombo gegen den spanischen „Colon“ auszutauschen, aus einem Tauber also einen Siedler zu machen, in das Bordbuch einer ihm überlassenen Karavelle: Wir sahen einen zerbrochenen Mastbaum etwa in der Größe dessen der „Pinta“ an uns vorübertreiben. Er trieb schneller als unser Schiff, und wir verloren ihn aus den Augen ...
Der Sohn dieses Mannes, Ferdinand, berichtet ergänzend, daß der Vater eine Lotleine über Bord geworfen habe. Das Senkblei wäre in der Fahrtrichtung bis über den Bug abgelenkt worden, woraus man auf eine südwestliche Strömung im Meere geschlossen habe. Es muß an der Stelle gewesen sein, wo der Kanarenstrom in die Nordgleicherströmung übergeht.
Kolumbus notiert diese Tatsache ohne Erstaunen. Er berechnet den Zuwachs an zurückgelegter Entfernung mit selbstverständlicher Genugtuung, als finde er bestätigt, was er schon sowieso gewußt.
Was ist geschehen, daß so plötzlich das Schweigen gebrochen ist, das den Atlantik Jahrtausende überschattete? Wie hast du es angestellt, Tlaloca, diesen rothaarigen Abenteurer auf deine Spur zu locken?
Hätte man Schiffstagebücher aus den alten Zeiten von Bristol, Plymouth, Cobh, St. Malo, Dieppe und Honfleur, von den baskischen und iberischen Häfen, so würde man nachlesen können, daß nicht erst die Wikinger auf dem Umwege über Island und Grönland dahin kamen, sondern daß vielleicht seit der Blüte von Tartessos keine bedeutenden Lücken in der Atlantiküberquerung bestehen bis zum lauten Jahre 1492.
Aber die Ruinen schweigen, und die Archive sind hilflos. Doch jeden Tag ist das Auftauchen solcher wichtigen Bestätigungen möglich, Funde wie der Runenstein zu Kensington in Minnesota, USA, der von einer Entdeckungsreise berichtet, die acht Schweden und einundzwanzig Norweger im Jahre 1362 von der nordamerikanischen Küste aus westlich der großen Seen ins Innere unternahmen, oder wie das Wikingergrab, 1930 zu Ontario in Kanada gefunden, oder wie der alte Wikingerturm auf Rhode Island am Hafen von Newport, demselben reizvollen Orte, wo die großen Atlantik-Segelregatten starten, die also unbewußt eine sehr alte Tradition zur Grundlage haben.
Aber so sicher, wie heute nach mühseligen Forschungen die Tatsache ist, daß der weiße Mann schon Jahrhunderte vor Kolumbus Amerika entdeckt hatte, so fehlt uns doch eines, es fehlt uns sein Gesicht. Wir wissen nicht, wie jene Weitfahrer ausgesehen haben. Die Annahme, daß sie groß, blond und blauäugig gewesen seien, mag als vager Umriß für die Wikinger gelten, aber nicht für den eigentlichen Typ des Meerbezwingers. Es wäre einfach, die Typen der Erde in Bauern und Fischer einzuteilen. Man kommt sogar bis in die Büros und Industriebetriebe hinein weit mit diesen Urmaßen. Aber nicht jeder Fischer ist ein Weitsegler, nicht jeder Bauer seßhaft.
Wir kennen nicht Gesicht und Gestalt des João Vaz, der schon 1465 auf Dorschfang nach Neufundland segelte. Seine Söhne haben davon erzählt, als es Mode wurde, über solche Gemeinplätze Worte zu verlieren. Es waren die beiden Corte Reals, die im Jahre 1500 von Labrador berichteten, daß sie dort an Land gegangen seien, etwas nördlicher, als ihr Vater je für nötig befunden. Sie verschollen später in der Davisstraße, ohne uns ihre Gesichter zu hinterlassen.
Das Gesicht von Cristoforo Colombo ist das erste aller Seefahrer, das wir kennen.
Aber kennen wir nicht auch das von Heinrich dem Seefahrer? Doch die Miniatur vom Ende des 15. Jahrhunderts, die anscheinend durch Brautwerbung nach dem Norden verschlagen wurde, zeigt einen merkwürdig modernen Typ. Er wirkt aber nicht wie ein Seefahrer, und in der Tat ist er nur die vom Land aus treibende Kraft zur Überwindung der Schwierigkeiten gewesen, die den Afrikaumsegler in den Strömungen der Äquatorregion erwarteten. Er selber ist nie zur See gefahren. Seinen Titel trägt er, wie es bis heute vorkommt, ehrenhalber für die Taten seiner Angestellten. Und den Sprung über den Ozean hat er nicht wagen lassen. Er sieht so aus, wie hervorragende Sammler auszusehen pflegen, mit Augen, die aus der Überschattung der Brauenbögen hervorstechen. Der Blick ist zehrend und sinnend. Die kräftige Nase schnuppert, die Lippen schwellen saugend; die Wangen sind eingezogen. Solche Leute begehren energisch, die leeren Plätze ihrer Galerien und Kabinette zu füllen, sie sind geeignet, Agenten zu beauftragen und eine zähe Korrespondenz zu führen. Sie schlafen schlecht, träumen heftig von Errungenschaften und Okkasionen. Aber persönlich setzen sie sich höchstens in jungen Jahren auf die Fährte.
Heinrich, Infant ohne eigentlichen Posten, sammelte Seekarten, Seewege und Afrikanachrichten. Afrika war sein Spezialgebiet, seit er 1415 bei der Eroberung des maurischen Ceuta geholfen und gestaunt hatte, was in diesem Welthafen an Schätzen zusammengetragen war und was dort an Industrie und Akademien bestand. Er sah damals die erste Papierfabrik und die erste Baumwollplantage, und wäre er ein Typ etwa wie Jakob Fugger gewesen, ein Handelsmann vom reinsten Erwerbstyp – man halte beider Bilder nebeneinander –, so hätte er sein bei der Beuteteilung eingestrichenes Kapital vermehrt, anstatt es mit der Ausbildung von Kapitänen, der Anschaffung von nautischen Instrumenten und der Ausrüstung von Expeditionsflotten zu verbrauchen. Ehe er aber seine Leute zu der lange in der Luft geisternden Fahrt quer über den Ozean beauftragen konnte, starb er.
Es war das Jahr 1460, um die Zeit, da Johann Müller, genannt Regiomontanus (er stammte aus Königsberg in Franken), die ersten brauchbaren astronomischen Tabellen berechnete, wie sie zur Bestimmung der geographischen Orte nötig sind. (Kolumbus hat sie als einer der ersten benutzt.) Es war die Zeit, da es zur Bildung gehörte, die Erde als Kugel anzusehen, so, wie es die Alten gelehrt, bevor die Christenheit es vergessen hatte. Es war die Zeit einer erwachenden geistigen Unruhe, wie sie noch nie Europa heimgesucht, einer erhitzten Regsamkeit, eines fingernden Suchens nach Neuland, das in Ermangelung neuer Richtlinien auf alte Quellen und Wegweiser zurückgriff. Es ist die Welle des Humanismus, die strudelnde Flut eines geistigen Fiebers, die alles in sich hineinreißt, was an Bildung, Überlieferung und Spekulation das Abendland halb versunken untermauert oder abgeschirmt umgibt. Sie wirft die vergrabene Antike ans Licht, verschlingt die Kultur der Araber, bemächtigt sich der hebräischen Geheimwissenschaft, durchstöbert alles, bezweifelt alles, begehrt alles und schießt, alles umrankend, in die Weltöffentlichkeit.
Es