Ahoi, Tlaloca! rufe ich. Denn hier eröffnet sich mir ein Abbild des Golfstroms im geringfügigen. So unauffällig wie hier der Rhein gen Stein und Schaffhausen strebt, pulst der Golfstrom durch den Nordatlantik. Und von der langen Brücke zu Stein am Rhein kann man die Strudel und Meerströme im kleinen beobachten, die den Golfstromforschern im großen oft genug Kopfschmerzen bereitet haben.
Wir aber lassen uns nicht von Kleinkram halten, so malerisch er sich anläßt. Wir gleiten rheinabwärts mit der Strömung, der kein Wind mehr als nur oberflächlich etwas anhaben kann, gleiten vorbei an Basel, Bonn, Köln und Utrecht in die See. Ich war eben versucht, die See mit dem Beiwort frei zu schmücken. Es könnte falsch ausgelegt werden. Ich meinte auch nur den unverbauten Horizont. Im übrigen hat es nirgends so viel Unfreiheit gegeben wie auf den Meeren. Selbst auf den nettesten Lustjachten ist man, wenn auch angenehm, ein Gefangener.
Du lächelst, Tlaloca? Du reitest auf deiner blauen Seeschlange und versuchst seit Urzeiten, sie von ihrem eigensinnigen, ihrem eigentlichen Wege abzulenken. Ist es dir nicht gelungen? Sie züngelt noch immer gen Europa. Ihr Atem liegt bedrängend in den Aprilseufzern. Sie ist ein Warmblütler, deine Atlantikschlange. Sie krümmt sich ein wenig, schlängelt sich, bläht sich, zieht sich zusammen unter deiner Ungeduld, aber sie weicht nicht ab vom Kurs, reibt sich an den Azoren hin, klemmt sich zwischen den Shetlands und Färöern hindurch, scheuert an Island vorbei und an Norwegen, fächelt Spitzbergen ums Kinn und biegt ums Nordkap, als hätte sie Sehnsucht nach Sibirien, taucht aber unter und verschwindet unterm Polarwasser und dreht das Zeitlupenkarussell der ungeheuren Eisscholle, die den Nordpol bedeckt.
Europa wäre nichts ohne sie, wäre halb Grönland, halb Alaska und bestenfalls Steppe. Einer unserer Vorväter hat das Rechte geahnt, als er die Midgardschlange erfand, die Jörmungandr, das mächtige Ungetüm, das aus dem heißen Harnstrahl des Urriesen Ymir entstand, nachdem er aus seinen Brauen die Erde geschaffen. Aus der Feuerwelt im Süden reicht sie bis zur Eiswelt im Norden. Das wußte schon die Edda. Die Gelehrten wissen es erst seit hundert Jahren. Heute sagt man Golfstrom dazu.
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Golfstrom ... Welch wunderliches Wort! Vorstellungen regen sich von südlichen Himmeln, von Meeresbläue und fliegenden Fischen, von altertümlich geformten Schiffen, von Entdeckerfahrten und weltweiten Abenteuern.
Golfo war der Ausdruck spanischer Westindiensegler für das Meer an sich, und sie haben zuerst Andeutungen überliefert über diesen merkwürdigen Strom mitten im Meer. Die Strecke zwischen den Kapverdischen Inseln und den Antillen, wo ein ständiger und zumeist sanfter Passat weht, nannten sie el golfo de las damas, das Damenmeer; denn dort, im Vorkreis des Golfstroms, in der Nordäquatorialdrift, pflegt das Wetter christlich zu sein, und es geht die Sage, daß von den ersten Frauen, die diese Strecke im Gefolge der hartgesottenen Abenteurer und Entdecker reisten, eine kühn genug gewesen sei, das Steuerruder gelegentlich zu übernehmen. (Vielleicht hatten die Maaten einige Buddel Vino tinto oder Aquadente zu viel hinter die Luke gestaut.) Und es sei dann weiter nichts passiert.
Das weite Seegebiet aber nördlich der Bermudas und der Kanaren zwischen dem fünfunddreißigsten und vierzigsten Breitengrad Nord nannte der spanische Matrose el golfo de las yeguas: das heißt Stutenmeer. In diesen Gefilden, die der Golfstrom so stürmisch umarmt, in diesem Hochdruckgürtel der subtropischen Kalmen, wo unweit lähmender Windstillentage die heftigsten Puster lauern, gingen den Frachtern nämlich nicht wenige der andalusischen Kavalleriepferde ein und wurden über Seite geworfen. Noch heute haftet der Gegend die Bezeichnung „Roßbreiten“ an. Es ist dienlich, alsbald ein Beispiel aus jüngerer Vergangenheit dazu kennenzulernen (obschon es etwas abseits in der Golfstromumarmung spielt). Kapitän G. Schmidt berichtet über das Erlebnis des Hapag-Dampfers „Bulgaria“ im friedlichen Jahre 1899, der am 28. Januar New York verlassen hatte. Außer einer Ladung Weizen hatte er zweihundertfünfunddreißig Passagiere und hundertfünfzig Pferde an Bord. „Die ersten vier Tage der Reise“ – so heißt es im Schiffstagebuch – „verliefen ruhig. In der Nacht vom 1. zum 2. Februar wurde der Dampfer jedoch von einem schweren Orkan ereilt. Während das Schiff in der hohen, wilden See platt vor dem Winde steuerte, wollte es nicht mehr dem Ruder gehorchen und drehte um zwei Uhr morgens an den Wind. Eine ungeheure Sturzsee überflutete das Schiff und schlug mehrere Luken ein, wodurch so viel Wasser einströmte, daß im Raum Nummer vier sechzehn Fuß gepeilt wurden. Das Schiff legte sich stark nach Backbord über, wodurch es große Schlagseite erhielt, und arbeitete entsetzlich. Durch die gewaltigen Erschütterungen wurden die Wasserballasttanks leck und liefen aus. Die Lenzrohre in Raum vier verstopften sich durch Getreide der Ladung. Hundertacht Pferde, die nach der Leeseite hinübergeschlagen wurden und im Wasser lagen, verendeten, konnten aber erst am sechsten Tage über Bord geworfen werden. Am Morgen des 2. Februar, als der Orkan mit erneuter Kraft einsetzte, brach der Ruderquadrant wie später auch das Handsteuer. Durch das schwere Arbeiten des Steuerruders lösten sich die Bolzen in der Kuppelung und gingen schließlich verloren. Erst nach tagelanger Mühe gelang es, die Kuppelung wieder zu befestigen, und nachdem die Platten der Seitenwände des Ruderhauses entfernt waren, konnte das Schiff mit Bäumen, die auf den Ruderkopf gelascht wurden, gesteuert werden. Durch das fortwährend stürmische Wetter und die hohe See, welche das auf der Seite liegende Schiff überflutete, wurden diese Arbeiten natürlich sehr erschwert. Um das Schiff wieder aufzurichten, war man genötigt, von der Ladung zu werfen; als aber das schwere Wetter das Offenhalten der Luken nicht mehr gestattete, mußte die Ladung verbrannt werden. Eine Sturzsee brach über das Bootsdeck, riß sämtliche Boote von der Backbordseite fort und schlug das Deck ein. Am 5. Februar, morgens vier Uhr, meldete der erste Offizier, daß die Schlagseite bedeutender werde, und der erste Maschinist zeigte an, daß das Wasser in den Räumen, obwohl alle Pumpen im Gange waren, dennoch zunähme.
Danach hielt es der Kapitän für angezeigt, den Versuch zu machen, die Passagiere abzubergen. Auf Notsignale kam der englische Dampfer ‚Weehawken‘ herbei, der einen Teil der Passagiere und zehn Mann von der Besatzung aufnahm und später in Ponta Delgada landete. Ein zweites Boot, das mit dem zweiten Offizier und drei Mann ebenfalls zu Wasser gelassen wurde, trieb fort“ (und blieb leider verschollen). „Als der Dampfer ‚Kurdistan‘ herankam, konnte man ihm wegen der hohen See keine Passagiere mehr abgeben. Am 7. und 8. Februar war das Wetter noch sehr schwer; am 9. wurde es etwas ruhiger, so daß man die Kadaver der Pferde über Bord werfen konnte. Das Schiff trieb ostwärts. Zeitweilig ließ man die Steuerbordmaschine arbeiten, um das Schiff soviel wie möglich auf dem Winde zu halten. Man versuchte auch, mit den Schrauben zu steuern, was aber bei der hohen See nicht gelang; am 12. Februar um sechs Uhr morgens, als von neuem schwerer Sturm einsetzte, mußte wieder beigedreht werden. Am 14. Februar kam der englische Dampfer ‚Antillian‘ herbei und versuchte, die ‚Bulgaria‘ zu schleppen, doch schlug der Versuch trotz aller Bemühungen fehl. Bis zum 20. Februar blieb das Wetter noch unruhig. Inzwischen war jedoch das Notsteuergeschirr hergestellt worden, mit dem sich das Schiff steuern ließ, und am 24. Februar“ (nach neunzehntägiger Drift in Sturm und Strömung!) „erreichte die ‚Bulgaria‘ mit eigener Kraft glücklich Ponta Delgada auf San Miguel“ (Azoren).
Dieser karge seemännische Bericht schließt eine ungesagte Fülle unsäglicher Anstrengungen, Leiden und Heldentaten ein und gibt eine Ahnung von dem, was der Golfstrom, der große „Wetterbrüter und Sturmkönig“, neben seiner europäischen Heiz- und Gärtnertätigkeit vermag.
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Golfo, Golf, Gulf, das ist abzuleiten von dem griechischen kolpos, und das bedeutet Busen. Wir denken bei dem Wort etwa an den Golf von Neapel; o Süden, o Sonne, o Bläue! (Obwohl dort selbst im Mai zwischen Porto d’Ischia und Santa Lucia das Wetter so eklig sein kann wie auf der Nordsee im November.) Und wir denken an den Golf von Mexiko, Tlaloca, der übrigens größer ist als die ganze Nordsee; er, deine Heimat, soll dem Golfstrom den Namen verliehen haben, galt er doch vormals als der Vater der blauen Schlange. Aber nicht jeder Vater ist auch der Erzeuger. Golfstrom heißt womöglich weiter nichts als Meeresstrom, corriente de golfo, in seit alters überlieferter schlichter Erkenntnis seines Wesens und lange schon so genannt, bevor Benjamin Franklin die Bezeichnung Gulf-Stream unter die erste Golfstromkarte setzte.
Die englische Form Gulf bedeutet nun aber nicht nur Bucht und Busen, sondern auch Abgrund und Strudel – welchem Busen