Ein anderer atlantischer Typ ist der Nürnberger Martin Behaim, anfangs Handlungsgehilfe im Kontor der Fugger zu Antwerpen, dann, der golfischen Erregung der Zeit folgend, einem Auswanderertrupp angeschlossen, als Isabell, Herzogin von Burgund, von ihrem portugiesischen Neffen eine Insel zum Geburtstag bekommen hatte und Siedler und Steuerzahler brauchte. So kam er auf die Insel Fayal, die zu den Azoren gehört, und die Seefahrt und die Mängel der Schiffsführung hatten seine Aufmerksamkeit mehr beansprucht als die Methoden des Landbaus. Er begann privat Nautik zu studieren und soll den Vorläufer des Sextanten, den Jakobstab, erfunden haben, der zur Messung der Gestirnshöhe dienlich ist und hilft, Zeit und Ort auf See zu bestimmen.
Wie Kolumbus, heiratete er in die Gesellschaft ein, eine Flamin, die Tochter des Statthalters zu Fayal, und lebte dann länger in Lissabon. Nicht unmöglich, daß die beiden besonderen Geister, die sich unbewußt ergänzten, einander begegnet sind. Aber indes Kolumbus zäh an die praktische Erfüllung seiner Fernwehvisionen ging, kehrte Behaim nach Nürnberg zurück – wahrscheinlich ähnlich wie Kolumbus vom portugiesischen Mäzenatentum enttäuscht – und baute dort, von den wachsenden Interessen der heimischen Handelsfirmen angeregt, als theoretische Untermauerung der neuen Weltanschauung für jedermann sichtbar, einen „Erdapfel“ nach den neuesten Erkenntnissen. Er wurde zwar nach Lissabon zurückgerufen, als Kolumbus, der in Spanien besseres Verständnis gefunden hatte, von Erfolg gekrönt heimgekehrt war, aber er starb, noch keine fünfzig, ein Jahr nach Kolumbus, ohne die neuen Länder gesehen zu haben.
Er diente der Entdeckung der Welt aufs friedlichste, als er seine Erdkugel baute, indes ein Namensvetter von ihm in Memmingen zu ihrer gewalttätigen Eroberung schon hundert Jahre vorher die ersten Geschützkugeln gegossen hat.
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Kolumbus segelte keinen Kurs blindlings, er wählte seine Route zwischen den Belangen der Portugiesen, die bis zum vierzigsten Grad westlicher Länge reichten, also Afrika, die Ostspitze Südamerikas und ganz Asien einschlossen (und nicht erst seit dem Entscheid des Papstes, dem 1493 ein fertiges Dokument vorlag), und zwischen dem Kurs, der nach Nordwesten die Kabeljauküsten trifft. Ihn trieb das Verlangen weder zum Äquator noch ins Eis. Kälte konnte er besser als Hitze vertragen, aber vor allem liebte er den Wind, die freie frische Luft, seinem Typ gemäß. Unbewußt drängte es ihn zur Überwindung der feuchten Schwüle, die vom Golfstrom über Europa streicht. Er gibt der Erregung durch den Golfstrom nach, weniger gelockt als belastet; er tastet der Quelle seiner Erregung nach, wie man einem unbestimmten Druckschmerz nachtastet, um ihn zu orten und sich von ihm zu befreien. Golfstromtypen sind am Golfstromfieber Leidende. Man möchte behaupten, fast alle Auswanderer in die Neue Welt waren W-Typen. Der amerikanische Typ ist durchweg ein W-Typ. Alle atlantischen Auswanderer sind Überwinder des Golfstroms.
Nicht die Aufsässigen verließen den alten Kontinent, nicht die hartgesichtigen Kaltfronttypen. Ihnen behagt die europäische Golfstromüberhitzung. Sie liebten den dortigen Krakeel, eiferten, prügelten sich, spannen Intrigen, herrschten oder ließen sich schlachten. Die anderen suchten den Frieden, suchten Schönheit, reiches Auskommen, das Paradies. Auch Kolumbus glaubte, drüben eine bessere Welt vorzufinden, und wirklich schien sein Glaube nicht getäuscht. Er geriet an sanfte Inselvölker. Er fand paradiesische Landschaften. Aber er überwand den atlantischen Zirkel nicht. Er blieb innerhalb der Golfstrom-Unruhe und vermochte nicht einmal, sie zur Heimfahrt zu nutzen – oder lehnte es aus seiner Kenntnis der Stürme und Gegenströmungen ab und auch deswegen, weil ihn der Strom unweigerlich in Gebiete geführt hätte, die schon von anderen beansprucht und besucht waren und über die ihm nur Ungastliches zu Ohren gekommen war.
Er segelt aus mit dem Portugalstrom und der Passatdrift, berührt die Sargassosee, gerät schließlich an ein Gewirr von Inseln, das er auf vier Reisen zu entwirren sucht; denn er will das Festland Asien finden, aber der Golfstrom bindet ihn auf tragische Weise. An der Südküste Kubas hinaufsegelnd, schon zehn Tage unterwegs in der stetigen Strömung, die von Yukatan an der Insel entlang in die Straße von Florida führt, läßt er plötzlich, ehe er diese erreicht, beidrehen. Entweder hatte er es satt, immer nur Inseln zu runden, oder fürchtete, mit dem stetigen Strome endgültig das Indien und Goldland zu versäumen, das er seinen Geldgebern zugesichert hatte.
Nach einer langen manischen Stimmung erfolggespeisten Hochgefühls befiel ihn in Höhe der kleinen Fichteninsel die Depression. Er fand sich blamiert. Und steigerte sich nun – alles seinem Typ gemäß – in eine verbissene Voreingenommenheit, in einen Selbstbetrug, der sich selber mit allen Mitteln zu stützen suchte. Wir betreten jetzt das Festland! rief er bei der Landung aus: Ich taufe es Juana.
Eingeborene, die man befragte, erklärten, es sei die Insel Kubagua. Das heißt Goldfundland. Gold! Die Depression des Entdeckers schlug spontan ins Manische über. Gold! Das war bislang nur dürftig erbeutet worden. Gold! Nur in Indien sonst gab es die Fülle, von der die Eingeborenen Andeutungen zu machen schienen und von der er geträumt und geprahlt hatte. Aber eine Insel? Nein!
Er ließ seine Mannschaften antreten und sie vor dem aus Spanien zur Beurkundung aller Entdeckungen mitgegebenen amtlichen Notar schwören, auch nach ihrer Überzeugung sei das eben betretene Land das Festland Asien. Und er ließ der Eidesformel hinzufügen, daß, wer nun noch Zweifel äußere, die Zunge nebst drei Dukaten einbüßen werde, wenn er Offizier sei, wenn aber Matrose, solle er hundert Peitschenhiebe empfangen (was so gut war wie eine Hinrichtung).
Der Vorgang ist merkwürdig. Er wirft kein gutes Licht auf den Charakter des Entdeckers. Aber er ist aus dem Typ erklärbar so weit, wie der Kreislauf der Strömung von warm zu kalt und von kalt zu warm erklärbar ist, die vor dieser Szene an der Küste katzenleise vorüberstrich. Kolumbus war bald von Entzücken erfüllt, bald von Verzagtheit gefoltert. Er tat alles, um die depressiven Zustände niederzuhalten. Sicher ahnte er, daß Kuba eine Insel sei. Aber seine Geduld war ebenso erschöpft wie die seiner Geldgeberin. Er hatte wie ein Evangelium verkündet, das Festland zu finden. Die Blamage nagte zerstörend an ihm. Er zwang sich mit Gewalt zum Glauben an den Erfolg. Und war skrupellos in der Wahl der Mittel, diesem Glauben Unterstützung durch andere zu verleihen. Jedenfalls konnte er nun der Königin Isabella mit dem Brustton der Überzeugung berichten: Ich habe mich nicht blamiert.
Außerdem hing die weitere Finanzierung der Forschungsreisen davon ab. Denn bislang war die Ausbeute – trotz aller schwärmerischen Berichte – nicht hinreichend, die Unkosten zu decken. Nur für ihn hatte es gelohnt. Isabella war eine kluge, ehrgeizige Frau, empfänglich für die beredte, phantasievolle und vibrierende Persönlichkeit des stattlichen Italieners, der eine Mischung von Freibeuter und Sektierer schien – eine Mischung, die seit alters geistreichen Frauen gefährlich ist. Ihr Mann war ein ziemlich oberflächlicher Trottel, der nur eins an den Plänen des Bittstellers verstand: Einkünfte und Machtzuwachs. Ihm gegenüber bedurfte die Königin mehr als für sich selber des raschen Beweises, daß die aufgenommenen Staatsgelder und die unterzeichneten Privilegien keinem Schwindler an den Hals geworfen waren.
Kolumbus und die Königin hatten beide Glück. Sie und auch er starben, ehe die Inselgestalt Kubas nicht mehr zu verheimlichen ging.
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Verweilen wir noch einen Augenblick bei diesem Prototyp des Golfstromeuropäers Kolumbus. Es geht hier um die Darstellung seiner Reisen und Abenteuer nur insoweit, als sie mit unserm Thema, dem Golfstrom, zu tun haben. Doch bedürfen wir einiger Beleuchtung seines Charakters, dem alle bisherigen Biographien kaum die Gerechtigkeit widerfahren lassen, die er verdient. Die Lehre von den Typen ist alt. Sie fußte lange auf der Einteilung der Gefühlsdispositionen durch Hippokrates, der sie – wie sein Begriff Temperament besagt – auf die ungleiche Mischung bzw. gehörige Mischung der inneren Säfte zurückführte.
Er unterschied die bekannten vier Temperamente, den blutvollen Sanguiniker, den zähflüssigen Phlegmatiker, den gelbgalligen Choleriker und den schwarzgalligen Melancholiker. Diese Einteilung wurde später bis zu zwölf Typen erweitert (Galen), dann wieder auf acht vermindert (Heymanns) und schließlich von Kretschmer auf zwei