Der eingepreßte Atlantikstrom, dessen natürlicher Ablauf schwunggerecht durch den Moskitogolf oder den von Honduras nicht möglich ist, schwillt auf im Kessel zwischen der Insel Kuba und der Halbinsel Yukatan. In diesem übermittelmeergroßen Heizkessel mit tropischer Oberfeuerung könnte der Meeresspiegel nicht als Grundlage für Höhenmessungen dienen. Er liegt rund einen halben Meter höher als am Äquator.
Der aus seinem Lauf gedrängte Strom bricht nun durch die Yukatanstraße. Da hält sich ihm der gewaltige Kübel des mexikanischen Golfes bereit. Man sollte meinen, er werde sich hineinstürzen und zur Ruhe gelangen. Aber nichts dergleichen geschieht. Es ist nicht so, wie man bis vor kurzem noch glaubte, daß dieser Golfkübel sozusagen vom Golfstrom überliefe. Man hat erkannt, daß nur ein paar schwache Seitensträhnen in den Golf tasten. Die Hauptströmung aber prallt an der Masse des Mexikogolfes ab wie ein Betrunkener von der Wand der Gummizelle. Und dann geschieht etwas kaum Faßliches. Der Yukatanstrom – wie er an dieser Stelle genannt wird – biegt in scharfem Knick nach Osten. Und mit rund zwei Sekundenmetern Tempo rauscht er durch den Engpaß zwischen Kuba und Florida, vorbei an der Stadt La Habana (nach der die Havannazigarren heißen) und dem Eisenbahndamm, der über die Korallenklippen der Südspitze Floridas zum alten Seeräuberfort Key West führt. Die Gewalt der Meeresströmung scheint nun entschlossen, brüsk in den Atlantik zurückzukehren.
Aber ein neues Hindernis stemmt sich entgegen, die wurstförmig gekrümmte Untiefe der Bahamabank. Zwischen ihr und der Landzunge Florida, die berühmt ist durch ihre Alligatoren, Nymphen, Testflugplätze und Hotelpreise, zwängt sich geschmeidig der Floridastrom hindurch und entflieht unbändig, um endlich ins Freie zu gelangen. Aus dem krummen Schlauch der Floridastraße wurde er, der nun auf den Karten die Bezeichnung Golfstrom trägt, in der gigantischsten Abflußströmung dieser Erde auf Nordkurs gedrückt und schießt wie aus einer Düse am Schelf der nordamerikanischen Küste entlang.
Beim Verlassen der Bahamaenge gesellt sich ihm, ihn verstärkend, ein Abzweig der Äquatorströmung zu, der Antillenstrom. Dieser hat ihn verlassen, als bei Trinidad die Drangsal des Inselgewirrs begann, und scheint die an den Wikingersprößling Peer Gynt gerichtete Mahnung zu beherzigen, um die Schwierigkeit herumzugehen. Er gelangt somit sachter als der ungestüme Hauptstrom an die Nordecke der Bahamas, und obwohl noch das Segelhandbuch des Atlantischen Ozeans 1909 berichtet: „Der Antillenstrom führt dreimal soviel Wasser wie der Floridastrom ...“, hat sich inzwischen herausgestellt, daß letzterer ihm sowohl an Wasser- wie Wärmetransport um mehr als das Doppelte, vor allem aber auch an Druck- und Düsenkraft überlegen ist.
Durch den Schwung der Palmbeachgefilde wie aus einem Teufelsrad an die Piste gedrückt, bleibt die Strömung dennoch der Küste fern. Sie erreicht nicht einmal überall den Schelfrand (das ist der Flachseegürtel, der die Kontinente mehr oder weniger breit umrandet und in zwei- bis vierhundert Metern in die steile Kontinentalböschung zur Tiefsee abfällt). Die Seebäder von Carolina, Virginia und Jersey, von Atlantic City und Long Island, denen der Golfstrom doch sozusagen vor der Tür vorbeifließt, erfreuen sich dennoch nicht seiner wohligen Warmflut. Eine von Labrador kommende kalte Gegenströmung drängt ihn seewärts und läßt die Badenden selbst im Hochsommer erschauern, macht also die Floridaorte und Westindia-Inseln desto verlockender.
Der polargekühlte Küstenstrom (nach einem der ersten Amerikafahrer Cabotstrom genannt), vom Golfstrom wie durch eine gläserne Wand ohne viel Übergang der Temperaturen getrennt – unmittelbare Begegnungen von fünfzehn mit fünfundzwanzig Grad Celsius sind nicht selten –, bringt es in Höhe der berühmten und berüchtigten Neufundlandbänke fertig, den Golfstrom nochmals aus der Richtung zu drücken, ihn, der immer noch verkappte Neigung zu zeigen scheint, irgendwo die Lücke zu entdecken, die zum Pazifik führt und die zu suchen eines Tages der weiße Mann sich aufmachte, gleichsam angesteckt von der unerfüllten Sehnsucht des Stromes.
Der eisige Gegner, der dem Golfstrom in die Flanke fällt, läßt nicht mit sich spaßen. Die beiden riesigen Naturgewalten bäumen sich stumm gegeneinander, und ungeheure Nebel steigen auf wie der Staub bei Reiterschlachten der Vergangenheit. Die schlängelnden, strudelnden, sich windenden Kämpen, der äquatorgeheizte, stark salzige Strom aus dem Süden und der salzarme kalte Eisschmelzstrom aus dem Norden, sie teilen sich in einzelne Heersäulen, staffeln sich und unterlaufen einander, verwirbeln und lösen sich. Aus dem unheimlich erbitterten Gerangel geht der Golfstrom sichtlich geschwächt hervor, zumal ihn der schon einmal bei den Antillen untreu gewesene Mitläufer wiederum verläßt und an den Azoren und Madeira vorbei nach Portugal, Afrika und zum Äquator umkehrt. Daß dabei ein zarter Fühler auch heute noch bis ins Mittelmeer tastet, ist höchst wahrscheinlich.
Indes nimmt der eigentliche, deine privateste Schlange, Tlaloca, seinen Weg gen Nordost, unaufhaltsam einem vagen Ziele zusteuernd, getrieben von anderen Kräften als dem Wind und sogar ihm entgegen, abgelenkt gen Ost auch von der drehenden Gewalt der Erde, die auf der nördlichen Hemisphäre alle Strömungen der Meere und Lüfte in Uhrzeigerrichtung zu zwingen sucht. Seine Breite beträgt an die sechzig Kilometer, seine Tiefe dreihundert Meter, hingleitend über die ozeanischen Abgründe, über den federnden Untergrund von fünf- bis sechstausend Metern kalten Atlantikwassers.
Auf dem fünfundvierzigsten Breitengrad, auf der Mitte zwischen dem St. Lorenz und der Spanischen Bucht, stemmt sich der Golfstrom noch einmal gegen die saugenden Mächte, die ihn gegen die gierig gespreizte, zerfressene Tatze Europa dirigieren. Es ist, als wolle er noch einmal südwestlich ausweichen und zwischen Labrador und Grönland die Davisstraße und die Hudsonstraße gewinnen, durch die arktische Inselwelt brechen und durch die Beringstraße und zwischen Kamtschatka und den Alëuten schließlich doch noch den Pazifik erreichen. Wie weit ihm solches, wenn auch mit fast aufgeriebenen Stoßtrupps, gelingt, und sei es unter dem Eise hindurch, bedarf noch letzter Erforschung.
Jedenfalls verdankt ihm die grönländische Westküste bei Godthaab, Neuherrenhut und Umanak (die Namen deuten auf eine gemischte und fromme Besiedelung) ihre kleinen heftigen Sommer und erträglichen Winter, indes das Klima auf der gegenüberliegenden Baffinsküste kaum für ein paar Eskimos und kanadische Polizeistreifen reicht.
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Die Hauptader des Golfstroms aber pulst längs der kalten Polarphalanx auf die Nordspitze Großbritanniens zu. Dabei sendet sie Tentakel gen Irland und Island und zur Ostküste Grönlands, die vor Jahrhunderten bestimmt kraftvoller waren und die größte Insel der Welt ihren Namen zu Recht tragen ließ, ehe die eisigen Schmelzwässer, von dem Wärmespender selber veranlaßt, ihn zurückdrückten und sich die Eiskappe polher über das grüne Land zog und die Küste mit Packeis blockierte und die wikingschen Siedlungen, die dort seit dem Jahre 900 und vielleicht schon früher bestanden, erstickte.
Nun aber dreht der einstmals große Vorstoß des Golfstromes in diesen hohen Breiten um Island herum ab. Er wird hier nach einem dänischen Forscher Irmingerstrom genannt und mildert das Klima der Edda- und Geisyrinsel so, daß dort mehr als 125 000 muntere (besonders muntere) Einwohner leben. Auf gleicher Breitenhöhe, auf der fast gleich großen Southampton-Insel ein paar Sonnenstunden westlicher, wird man vergebens nach ständiger menschlicher Niederlassung und Munterkeit fahnden. Flankenrauten wärmenden Wassers schweifen, nach anderen Auswegen suchend oder aber nach sonderlichen Plänen gelenkt, weit auf die Seite des geringeren Widerstandes, das heißt, des nicht so schroffen Temperaturgegensatzes, und gelangen durch den Kanal in die südliche Nordsee. Man merkt es gleich hinter der Isle of Wight, wenn auf dem Promenadendeck die Pelzmäntel verschwinden und der Steward statt heißer Bouillon Limonade serviert. Mehr noch wird die Nordsee um Schottland herum angefächelt, man spürt es wintertags bis Blankenese, ja bis Magdeburg und Prag, wenn der Westwind die Elbe heraufkommt.
Der Golfstrom selber zwängt sich zwischen den sturmumtobten Felsen der Färöer und den hundert düsteren Pony-Inseln der Zetlands (wie die Shetlands amtlich heißen) hindurch gen Norwegen. Sein Name wechselt in Norwegerstrom. Und nun beginnen seine letzten verbissenen Kämpfe gegen die Eiswasserströme