Monika hatte noch nie einen weniger gelungenen ersten Kontakt mit Hinterbliebenen erlebt. Sie beschloss, nicht auf Jenny zu achten und hoffte, dass Dahlia ihrem Beispiel folgen würde.
»Also, hier in Lotties Wohnung leben Dahlia und Pernilla. An der Tür steht noch ein dritter Name, wer ist das?«
»Sara, Sara Gottman.« Dahlia hatte sich von Jennys Ausbruch nicht ins Bockshorn jagen lassen. »Sie will auch Schauspielerin werden. Sie ist in Indien und kommt erst nach Weihnachten zurück.«
Monika hörte Idriss’ Füllfederhalter kratzen. Sie hatten nicht über die Arbeitsverteilung gesprochen, aber er hatte offenbar die Protokollführung übernommen.
Monika wandte sich dem Mann zu, der stumm und aufmerksam, aber seltsam distanziert dasaß wie ein offizieller Beobachter oder Diplomat, den die Geschehnisse jedoch persönlich nicht betrafen. Er war untersetzt und grob gebaut, wenn auch nicht dick, hatte ein viereckiges Gesicht und dunkle Locken. Seine Augen waren hellbraun und in romantischen Situationen sicher brauchbar. Er beantwortete ihre stumme Frage: »Johan Lindén, Freund der Familie. Ich habe heute hier übernachtet, habe Lottie aber nicht gesehen. Das kommt häufiger vor. Kam häufiger vor.«
Monika hätte gern gewusst, ob er mit Pernilla oder mit Dahlia zusammen gewesen war, doch deren Verhalten gab keinerlei Hinweis darauf. Sie verkniff sich die Frage ‒ den minimalen Kontakt, den sie bisher aufgebaut hatte, wollte sie nicht durch Fragen zerstören, die unnötig persönlich wirken könnten. Im Laufe der Zeit würde sie schon alles in Erfahrung bringen, wenn es von Bedeutung für den Fall war.
»Na gut. Dann möchte ich vor allem wissen, ob Lottie Ihres Wissens nach jemals bedroht worden ist.«
Alle, die Monika sehen konnte, schüttelten den Kopf. Sie sahen verängstigt und ein wenig verständnislos aus, als könnten sie noch immer nicht glauben, dass das hier wirklich passierte.
»Aber was ist das denn für ein Unsinn! Niemand hat Lottie bedroht!«, protestierte Jenny.
»Woher wissen Sie das?«
»Das hätte sie auf jeden Fall aller Welt erzählt, aber sie hat kein Wort gesagt.«
Die anderen nickten zustimmend.
»Wissen Sie, was sie in Kungsholmen wollte?«
Niemand wusste eine Antwort.
»Was machte sie sonst nach den Nachmittagsvorstellungen?«
Nach einer ziemlich langen Pause sagte Johan zögernd, das sei ganz unterschiedlich gewesen. Manchmal sei sie nach Hause gekommen, manchmal hätte sie aber auch ihre vielen Bekannten besucht oder sei mit Kolleginnen oder Kollegen essen gegangen.
»Wissen Sie, was sie gestern gemacht hat?«
Das wusste niemand, oder sie verschwiegen es, falls sie es wussten. Sie hatten sich jedenfalls keine Sorgen gemacht, als sie abends nicht nach Hause gekommen war, sie waren an Lotties unregelmäßige Lebensführung gewohnt und deshalb wie sonst schlafen gegangen.
»Können Sie mir sagen, woran Lottie im Moment gearbeitet hat? Sie haben das Theater erwähnt, aber sie wirkte ja offenbar auch in einer Fernsehserie mit?«
Jenny gab nach und ließ sich zwischen Pernilla und Johan auf das Sofa sinken, sodass sie Monikas Blick erwidern konnte.
»Sie hatte viele Eisen im Feuer. Da war das Theater, die Revue im Maximtheater, gleich hier in der Nähe. Und dann ›Unsere verrückte Familie‹, eine Seifenoper, wo sie eine Großmutter spielte, die sich immer wieder in das Leben der anderen einmischte, Sie haben sicher einige Folgen gesehen, die Serie läuft schon seit einer Ewigkeit. Soviel wir wissen, hatte sie keine Feinde, sie hatte weder mit Drogenhandel noch mit Erpressung oder anderen Dingen zu tun, die auf die Dauer gefährlich werden können. Sie fürchtete sich vor nichts und niemandem. Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden, denn damit ist dieses Gespräch beendet.«
Jenny sprang wieder auf, und dieses Mal folgte Monika ihrem Beispiel. Sie nahm an, dass sie hier nicht weiterkommen würden. Und da noch immer nicht feststand, ob Lottie wirklich ermordet worden war, gab es auch keinen Grund, auf der Fortsetzung des Gesprächs zu bestehen und sich den trauernden Töchtern noch länger aufzudrängen.
Doch zugleich fragte Monika sich, wen Jenny zu beschützen versuchte. Sich selbst, vor Trauer und Schock? Pernilla, die in ihrer Sofaecke wie ein verzweifeltes Kind in sich zusammenkroch? Lotties eventuelle Geheimnisse? Wenn Lottie wirklich ermordet worden war, dann würden sie bald ihre Wohnung auf den Kopf stellen, doch bis dahin sollten die Töchter ihre Ruhe haben. Oder vielleicht hatte Jenny einfach seit ihrer Kindheit um ihr Privatleben kämpfen müssen. Sie war vielleicht diejenige gewesen, die Grenzen zog, die einen ständigen Kampf darum ausfocht, einen kleinen Teil von Lotties öffentlich geführtem Leben zu behalten. Vielleicht hatte sie Pernilla schützen müssen, weil Lottie das nicht tat. Zum ersten Mal seit sie diese Wohnung betreten hatte, empfand Monika eine gewisse Sympathie, stellte sich plötzlich die vielen Fragen vor, die neugierigen Blicke, die vielen Eindringlinge ins Familienleben, mit denen Lotties Kinder hatten leben müssen. Das könnte durchaus erklären, dass weder Jenny noch Pernilla das Bedürfnis zeigten, ihr Leben, die Ereignisse und ihre Reaktionen genau zu beschreiben, wie es Monika so oft bei Angehörigen begegnet war.
Eine andere Erklärung war natürlich, dass die Polizei nun zu der Feindin geworden war, die um keinen Preis die Wahrheit über Lotties Tod in Erfahrung bringen durfte.
Sie hatten den Bogengang schon fast durchquert, als Jenny noch hinzufügte: »Wenn Sie schon jemanden schikanieren wollen, dann versuchen Sie es doch bei Eva-Maria, unserer Halbschwester. Die wohnt übrigens dort in der Gegend.«
»Wir wussten nicht, dass es noch eine Schwester gibt. Ist sie schon unterrichtet worden?«, fragte Idriss.
Jenny schüttelte den Kopf.
»Von uns jedenfalls nicht. Wir haben keinen Kontakt zueinander.«
»Aber dann weiß sie vermutlich noch nicht einmal, dass ihre Mutter nicht mehr lebt. Sicher hat sie ihren Namen geändert und ist uns deshalb nicht aufgefallen.«
»Sie ist mit einem Marokkaner verheiratet. Er heißt Mossati, Mossa... so was in der Art. Aber das ist doch egal ‒ für sie ist Lottie seit über zwanzig Jahren tot.«
Am Ende war es Johan, der anbot nach dem Namen und der Adresse zu suchen. Die anderen schienen sich nicht im Mindesten daran zu stoßen, dass er, der Gast, Lotties Habseligkeiten durchsuchte, oder genauer gesagt, ihren Nachlass.
»Hier ist es«, rief Johan aus dem Inneren der Wohnung. Seine Stimme schien von weither zu kommen. Er hielt ein kleines, abgegriffenes Notizbuch und ein Telefonbuch in der Hand, als er zurückkam.
»Ich habe auch eine Nummer, aber keine Adresse. Ich sehe mal im Telefonbuch nach.«
Er fing an zu blättern. Monika notierte inzwischen die Nummer.
»Moussaoui. Moussawi. Die Franzosen sind schuld daran, dass dieser Name M-o-u-s-s-a-o-u-i geschrieben wird. Wenn Marokko eine englische Kolonie gewesen wäre, dann würde es M-o-o-s-a-w-e-e geschrieben. Ein Buchstabe weniger!«
Idriss war der Einzige, der lachte.
»Hier. Kassem und Eva-Maria.«
Er verstummte plötzlich und sah peinlich berührt aus.
»Seltsam. Sie wohnen in der Igeldammsgata 26. Das muss doch ganz in der Nähe sein.«
Monika sah Jenny und Pernilla an. Wollten sie ihr wirklich einreden, sie wüssten den Namen und die Adresse ihrer Schwester nicht? Oder war es einfach so, dass kein warmes Zimmer, kein Erfolg, keine Begabung vor den Kräften schützt, die die Bindungen zwischen Frauen mit derselben Mutter, zwischen Mutter und Tochter zerreißen können?
»Wollen Sie Eva-Maria anrufen oder sollen wir das übernehmen?«
»Ich glaube, Sie haben mich nicht verstanden ‒ wir kennen